Intimität der Gier

Die Abenddämmerung einer Epoche ist meist eine Zeit der Reife, oft auch eine der Überreife. Die Farben sind gesättigter, sie leuchten kräftiger und definitiver: Sie trotzen ihrem Verschwinden. Bestimmt gehört deshalb das Ende der Stummfilmära zu den Kapiteln der Filmgeschichte, die mir am liebsten sind. Aber »L' Argent« (Das Geld) stellt 1928 alles noch einmal auf Anfang.

Gewiss, Marcel l'Herbiers Film schöpft in vollen Zügen aus dem Reichtum der sich neigenden Ästhetik, dem Wechselspiel von Licht und Schatten, der Agilität der Kamera, dem inbrünstigen Affekt der Darsteller, den prunkenden Dekors, die in die Höhe ragen können, weil über ihnen noch keine Mikrofone hängen. Jedoch entfesselt er sie neu, im Zeichen einer Moderne. Er wird nicht müde, die ausgereizte Bildsprache durch Ungekanntes zu erweitern. Er erfindet hinzu, was demnächst womöglich nicht mehr gebraucht wird.

In der Mediathek von arte können sie dies noch bis zum 20. Januar nächsten Jahres überprüfen. In den Längenangabe im Programm hat sich übrigens ein Tippfehler eingeschlichen. Die Laufzeit beträgt nicht 145 Minuten, sondern 164, was der der maßgeblichen DVD-Editionen (Carlotta, Eureka etc.) entspricht. Sie vergeht im Flug, das Tempo ist rauschhaft, die Kameraoperationen sind stoßend. Die Handlung der Romanvorlage von Emile Zola verlegt der Film in die damalige Gegenwart. Sie ist vom Fieber der Beschleunigung befallen, Börsenkurse steigen und fallen jäh, die Kommunikation steht auf der Höhe der Zeit (Telefon, Fernschreiber, Radio); den dramatischen Höhepunkt bildet ein Transatlantikflug. Die Menschen werden von dem Tempo ergriffen, können aber nicht mithalten.

Im Zentrum stehen die Finanzmanöver des Bankiers Saccard (Pierre Alcover) und seines mächtigen Widersachers Gunderman (Alfred Abel). Zwischen ihnen steht die Baronin Sandorf (Brigitte Helm), die sich von ihrem ehemaligen Geliebten Saccard abwendet, als diesem der Konkurs droht. Er hat inzwischen ein Auge auf Line Hamelin (Marie Glory) geworfen (vor allem auf ihre Beine), deren Leben zunächst in einer anderen Geschwindigkeit verläuft. Das Vorhaben ihres Mannes, des Fliegers Jacques (Henry Victor), in Französisch-Guyana von ihm entdeckte Bodenschätze auszubeuten, könnte Saccards Finanzimperium sanieren. Die Intrigen, ihre Ausführung und Vereitelung, sind aufgeladen mit Suspense. Ich konnte jedenfalls nicht umhin, mit dem gewissenlosen Saccard zu fiebern. Allerdings fand ich kurios, dass der Regisseur als Co-Autor Arthur Bernède verpflichtete, den Erfinder von Belphégor und Judex, mithin einen Spezialisten für zeitgenössische Schauerromantik. Immerhin ist der schurkische Gegenspieler, dem Judex das Handwerk legen will, ist ebenfalls Bankier. Diese vermischte Autorenschaft mag den Platz erklären, den das Drehbuch der Ambivalenz einräumt.

Das darf man durchaus im buchstäblichen Sinne verstehen. »Das Geld« ist berühmt für seine überdimensionierten, prunkenden Szenenbilder, für die Lazare Meerson und André Barsacq zeichnen. Es sind fast ausschließlich Innendekors, die Reichtum und Macht ihrer Besitzer repräsentieren. Saccards Stadtpalais scheint ebenso weitläufig wie das Parkett der Pariser Börse. Diese Größendimension hatten mich schon beim ersten Sehen vor etlichen Jahren beeindruckt, jetzt entdeckte ich noch eine weitere Funktion, die sie im Film erfüllen. Sie sind Spielfelder konkurrierender Handlungsebenen, das Intime und die Öffentlichkeit sind nur ein paar Schritte voneinander entfernt; zumal in der Sequenz der Soiree, die Saccard seiner arglosen Flamme ausrichten und für die sich seine Gemächer in einen veritablen Nachtclub verwandeln. In den Räumen der Macht gibt es immer noch einen zweiten Apell, kaum ein Moment bleibt ungestört. Das Erzählprinzip der Parallelmontage, das ideal zu der erbitterten Rivalität zwischen Saccard und Gunderman passt, überträgt sich als Binnenspannung in die einzelnen Szenen. Es geht immer noch um etwas anderes, eine verborgene Agenda stets vermischen sich unterschiedliche Impulse. Der Moment, als Saccard die Baronin bedrängt, gleichermaßen aus Geilheit wie Rachsucht, während hinter einem Paravent sich ihre Abendgesellschaft vergnügt, ist ein Höhepunkt sublimierter Erotik im Stummfilmkino. Beide sind dem Geld verfallen, sie gehören ihm. Ihre Begierde ist nicht namenlos, sondern betrifft jede Faser ihrer Existenz.

Fast noch mehr als den Film selbst mag ich den Dokumentarfilm, den Jean Dréville über die Dreharbeiten gemacht hat. »Autour de l'Argent« wird gern als das erste Making of der Filmgeschichte bezeichnet (ich könnte freilich mir vorstellen, dass sich Douglas Fairbanks oder Buster Keaton davor schon beim Ausführen ihrer Stunts zu Publicityzwecken filmen ließen), auf jeden Fall ist es das schönste. Unter den Supplementen der oben genannten DVD-Editionen ist es das Glanzlicht. Dréville wurde später selbst Regisseur, leider nur ein mittelprächtiger, aber zu diesem Zeitpunkt war er im Vollbesitz seines Talents und seines Wagemuts. Mit Anfang 20 konnte er nur Erfahrung als Fotoamateur vorweisen, aber l'Herbier engagierte mit ihn mit untrüglichem Instinkt. Dréville ist hautnah dran, er schneidet flink von Drehbuchauszügen und Filmszenen zu den Dreharbeiten. Die Choreographie, der Kameramann Jules Kruger (der gerade Gance' »Napoleon« abgedreht hatte) die Bewegungen seines Apparats und die Darsteller unterwirft, setzt sich nahtlos im Making of fort. Auch das ein Meisterstück filmischer Raserei. Auf Youtube findet sich nur ein zweiminütiger Ausschnitt, aber der ist grandios und repräsentativ. Kruger ist unzufrieden mit der Schwerfälligkeit der Kamera, mit denen er die zupackenden Kreisbewegungen im imposant globalen Vorzimmer Gundermans nicht drehen kann. Er schultert eine Handkamera, um das schwankende Travelling zu filmen. Er improvisiert, er erfindet die Agilität neu. »Autour de l'argent« verherrlicht die Kreativität und poetisiert eine Technik, die im Angesicht ihres drohenden Verschwindens noch einmal atemlos Fahrt aufnimmt.

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