Nun also Carax: Die Nacht ist jung

Sogar einen eigenen Schrein hat er ihr eingerichtet. Er ist hinter einem Bildrahmen verborgen. Nur die Kamera kennt das Versteck, nur sie ist Zeuge der nächtlichen Zeremonie, wenn Alex bei seiner Heimkehr das Bild von der Wand nimmt, um den Blick freizugeben auf den eigenhändig gemalten Stadtplan von Paris.

In den verschiedenen Arrondissement hat er die Wegmarken seines Lebens verzeichnet. Auf dem Plan sind die Orte festgehalten, an denen er seinen ersten Kuss bekam und den ersten Ladendiebstahl beging. Er hat markiert, wie er auf dem Pont-Neuf seine Geliebte zum ersten Mal belog. In dieser Nacht trägt er seinen ersten Mordversuch am Ufer der Seine ein.

Die Chronistenpflicht gegenüber der eigenen Biographie beschränkt sich jeweils auf das erste Mal; die Wiederholung einer Erfahrung scheint für ihn nicht mehr zu zählen. Diese geheime Kartographie der Gefühle und Affekte, die Leos Carax in seinem Regiedebüt »Boy meets Girl« dem Publikum entdeckt, ist ein verstohlener Liebesbeweis an seinen Drehort. Bisher war Paris unverzichtbar für sein Kino und bestimmte das erzählerische Schicksal seiner ersten fünf Langfilme, die das Berliner Arsenal bis zum 1. Dezember zeigt. Sie können sich nicht lösen von der Stadt, auch wenn in ihnen immer wieder davon die Rede ist, sie zu verlassen. Aber die Träume vom Anderswo und Anders sein lassen sich stets aufschieben. Selbst noch in „Pola X“, der sich im ersten Teil in die mulmig-sonnenüberflutete Idylle der Normandie versenkt, wird die Abkehr revidiert, wenn die Figuren im zweiten Teil in die tristen Ausläufer der Stadt zurückkehren. Erst mit „Annette“, der im Dezember startet und auf den die Werkschau einstimmt, kann Carax sich abnabeln. Und siehe da, er wird leidlich heimisch in Los Angeles, obwohl das Team dort nicht mehr als eine Woche verbrachte. Einige Drehorte fand die Produktion, man mag es kaum glauben, im westfälischen Münster. Dieses LA ist mithin ebenso imaginär wie das Paris, das seinen Figuren als Spielplatz dient. Es ist ein verwunschenes Reich, das man in seinem Kino mit anderen Augen entdeckte. So leer wie bei ihm ist die Metro, im Kino und im Leben, nie.

Carax ist selbst eine romantische Figur. Vielleicht ein Bartleby des Kinos? Immerhin: nur sechs lange Filme hat er in 37 Jahren gedreht. Nein, vielmehr ein cinéaste maudit, dessen Karriere sich nach dem Skandal um »Die Liebenden vom Pont Neuf« (eine regelrechte Staatsaffäre wurde das, nachdem er das Budget um ein Vielfaches und den Drehplan um zwei Jahre überschritt) immer wieder neu erholen musste. Eine ungekannte, nicht nur im französischen Kino präzedenzlose poetische Wucht offenbart sich 1984 in »Boy meets girl«; »Mauvais Sang« (Die Nacht ist jung) bekräftige das Versprechen zwei Jahre später, das sich dann 1991 endgültig in den »Liebenden von Pont-Neuf« erfüllen sollte. Carax' erzählerischer Furor zielt darauf, den Zuschauer mit surrealen Einfällen und visuellen Attraktionen zu konfrontieren, seine Logik (und Legitimation) ist der Erlebnishunger der Kamera. Sein Talent für das Ungekannte ist grundiert in einer weitläufigen, unersättlichen Cinéphilie, einer versponnen getilgten Schuld gegenüber Vorbildern wie Cocteau, Godard, Griffith und Vidor: ein Geflecht der Affinitäten, das einen noch weiter rätseln lässt, wenn sich der erste Eindruck von Verblüffung oder Evidenz gelegt hat.

Ab 1991 war er verfemt bei Produzenten, aber sein Schweigen weckte die Neugier. Wie kann sich ein Künstler weiterentwickeln, wenn er seinen Beruf nur sporadisch ausüben darf? Was geht in der Zwischenzeit verloren? Nehmen nicht irgendwann einmal die Zweifel überhand? Carax hat die episch langen Zwangspausen genutzt. Er wurde eigentlich immer besser, selbst die viel gescholtene „Pola X“ hat ihre Meriten. »Holy Motors« von 2012 finde ich nach wie vor sein Meisterwerk, keine Summe oder Bilanz, dieser Filmemacher will sich offen halten. Aber ein Inventar seines Kinos (und des Mediums überhaupt, man denke nur daran, wie sein Stammschauspieler Denis Lavant einmal als Darsteller im "Motion-Capture"-Vorspiel eines erotischen Animationsfilms agiert.) legt er dennoch an. Lavant verkörpert den mysteriösen Monsieur Oscar, von dem man nach einer Schonfrist des Rätselns erahnt, dass er einer neuen Gattung von Schauspielern angehört. In einer weißen Stretch-Limousine, die von Georges Franjus einstiger Muse Edith Scob gesteuert wird, bewegt er sich einen Tag und eine Nacht lang durch die Seine-Metropole und bewältigt dabei ein Pensum von neun „Verabredungen“, die darin bestehen, dass er in unterschiedliche Rollen schlüpft, für die er sich jeweils selbst kostümiert und schminkt. Vorgestellt wird er als ein Unternehmer, der frühmorgens seine Villa verlässt, sodann verkörpert er eine greise Bettlerin auf dem Pont Alexandre III, später ein monströser Faun, der Eva Mendes von einem Fototermin auf dem Père Lachaise in ein Versteck in der Kanalisation entführt. Einmal, womöglich in einer Pause seines anstrengenden Terminkalenders, führt er eine Horde von Akkordeonspielern an.

Sein schönster Paris-Film ist es allemal. Durch das Kaufhaus Samaritaine, das in den »Liebenden von Pont-Neuf« wie ein massives Sehnsuchtsbild erscheint, streichen Lavant und Kylie Minogue hier wie durch einen verlassenen Geistertempel. In der Episode mit der australischen Sängerin zeigt sich, wie vehement die Verlockung des Musicals (siehe gestern) für diesen Regisseur immer schon war. So erscheint »Annette« wie eine Konsequenz, deren Logik in den Filmen angelegt ist, die nun in Berlin zu sehen sind. Es ist die Folgerichtigkeit des Traums, das Bekenntnis eines Somnambulen. Carax liebt das Dunkel, in dem alles möglich scheint. Die Nacht ist jung; selbst in Los Angeles.

 

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