Ein beschädigtes Versprechen

Das tollkühnste Lob, das ich je über eine Schauspielerin las, lautet: "She can do everything but split the atom." Ich entdeckte es vor gut zehn Jahren in einem Festivalbericht aus Telluride und habe es seither nicht vergessen. Wie auch? Auf so etwas muss man erst einmal kommen. Im Deutschen bekommt man das jedenfalls nicht so knackig hin.

Das Lob galt Carey Mulligan, die in »Shame« sie Michael Fassbenders Schwester spielt. Der Festivalbericht war arg auf dessen Leistung konzentriert und vielleicht hatte der Kritiker gemerkt, dass er Gefahr lief, diese außerordentliche Schauspielerin nicht in ihr Recht zu setzen. Sein Lob war jedoch weder gönnerhaft noch ein Alibi. Übertrieben war es auch nicht. Ich muss gestehen, dass es meinen Blick leitete, als ich den Film später sah. Mulligan hatte mich zuvor bereits in »An Education« und »Alles, was wir geben mussten« beeindruckt. In »Public Enemies« hatte ich nicht recht Notiz von ihr genommen und »Drive« sah ich erst danach. »Der große Gatsby« blickte ich mit großer Skepsis entgegen: Die Rolle der Daisy ist bisher immer enttäuschend besetzt worden, eigentlich zwangsläufig, denn wer könnte schon Gatsbys Phantasiebild entsprechen - und es danach entzaubern? Immerhin war Mulligan noch das Beste an Baz Luhrmanns Fitzgerald-Travestie.

Auch Dennis Harvey, langjähriger Kritiker des Branchenblatts "Variety", scheint ein Bewunderer der britischen Schauspielerin zu sein. Dass er ihr jedoch nicht alles zutraut, hat in den letzten Wochen virale Entrüstung ausgelöst. Bereits vor einem Jahr rezensierte er ihren neuen Film »Promising Young Woman«, als dieser in Sundance Premiere hatte. Er beschäftigt sich darin ausführlich mit ihrer "stilisierten" Darstellung, meldet am Ende aber Zweifel an, ob sie wirklich glaubhaft sei als verführerische Femme Fatale, die Rache übt für die Vergewaltigung einer Freundin. Er spekuliert, ob die Rolle nicht ursprünglich für Margot Robbie gedacht war, die als Mitproduzentin des Films fungiert und die, das impliziert seine Mutmaßung, in diesem Rollentyp wohl überzeugender wäre.

In einem Artikel, der im Dezember in der "New York Times" erschien, nahm Carey Mulligan Anstoß an Harveys Rezension. Die Einschätzung, sie sei nicht "scharf genug" (hot enough) für einen solchen Part, hält sie für durchschaubar und im Jahr 2020 nicht mehr angemessen. Als Schauspielerin von enormer Wandlungsfähigkeit (die Privatperson kennen wir nicht) muss sie Harveys Kritik als eine unzulässige Kränkung empfunden haben. Dass sie sich pünktlich zu Beginn der Awards Season über sie beschwerte und nicht schon bei ihrem Erscheinen, diskreditiert ihre Empörung nicht. Vielleicht hat sie vorher schlich niemand danach gefragt? Seither jedenfalls schlägt die Causa hohe Wellen in den USA und England. Natürlich schwappen sie auch in hiesige Feuilletons über. Anfang Februar veröffentliche die „Süddeutsche Zeitung“ einen Kommentar, der die Frage stellt, wo Filmkritik aufhört und Sexismus anfängt. Knackig geht also doch im Deutschen.

»Promising Young Woman« ist hier zu Lande bislang nicht veröffentlicht, auch ich habe ihn noch nicht gesehen. Aber der Streit wirft grundlegende Fragen über unseren Beruf auf, die in der bisherigen Debatte angesprochen, wenngleich nicht vertieft wurden. Es ist heikel, über das Aussehen von SchauspielerInnen zu schreiben, aber es ist auch essenziell. Sie tragen nicht nur ihr Talent zu Markt. Ihre äußere Erscheinung ist ein Kriterium, nach dem sich ihre Glaubhaftigkeit in einer Rolle messen lässt. Mulligans Erscheinung hat Harvey übrigens nur insofern kritisiert, als er ihre Kostüme und Perücken als falsch und aufgesetzt bemängelte.

Daraus den Vorwurf des Sexismus' abzuleiten, fällt mir schwerer als den KritikerInnen des Londoner "Guardian", die sich lebhaft an der Diskussion beteiligten. Chatherine Shoard nahm die Causa zum Anlass, der Filmkritik generell vorzuhalten, sie habe mit "Trägheit" auf die #MeToo-Bewegung reagiert. Einmal davon abgesehen, dass ein Hashtag noch nicht automatisch eine moralische Verpflichtung darstellt, stimme ich nicht ganz mit ihrer Wahrnehmung überein. „Die "Filmkritik wurde von der Bewegung durchaus aufgeschreckt und ist seither verunsichert. Möglicherweise haben wir das Thema jedoch zu leicht den Anderen überlassen, den Laut- und chronisch Meinungsstarken, die gern ohne Ansehen der Filme argumentieren. Die Forderung, unser Metier müsse "more diverse" werden, ist nie verkehrt. Der Zweifel ist ein unverzichtbarer, robuster Impuls.

Die aktuelle Debatte hat sich unterdessen heillos verfahren. Dass Harvey sich selbst im "Guardian" zu Wort meldete, hat eher Verwirrung gestiftet als Klarheit geschaffen. Er tat sich keinen Gefallen, als er die Vorwürfe seinerseits gekränkt von sich wies. Als "sixty year old gay man" will er sich nicht dem Verdacht ausgesetzt sehen, Sexist zu sein. Was hat das mit dem Alter zu tun? Und seit wann macht die sexuelle Orientierung einen Autor immun? Jetzt stünde, nach 30 Jahren bei "Variety" sein Job auf dem Spiel. Er reklamiert die Opferrolle nun für sich, was eine durchschaubare, klägliche Strategie ist. Ich vermute, er hat die inkriminierten Sätze aus einer gewissen Achtlosigkeit heraus geschrieben. Die ist natürlich nicht durch die Eile entschuldigt, in der Festivalkritiken entstehen müssen. Vielmehr kann ich mir vorstellen, am Ende seines Artikels hatte er den Eindruck, »Promising Young Woman« insgesamt zu wohlwollend bewertet zu haben und suchte ein Gegengewicht.

Dieser Mechanismus hat auch mit dem Medium zu tun, für das er arbeitet. Es steht nicht für „die“ Filmkritik, sondern für eine spezifische Disziplin. Branchenblätter wie "Variety" haben eine andere Aufgabe als reguläre Filmzeitschriften oder die Tageskritik. Ihre Auffassung ist pragmatischer. Gewiss, auch für sie ist die Qualität eines Films entscheidend; eine ästhetische Auseinandersetzung ist nicht verboten. Aber sie leisten in erster Linie einen Kundendienst der Abwägung. Ihre Kritiker haben stets auch die kommerziellen Aussichten eines Films im Blick. Sie richten sich wesentlich an eine professionelle Leserschaft, insbesondere Kinobesitzer, die anhand einer Rezension entscheiden, ob ein Film in ihr Programm passt oder sich Aufschluss darüber versprechen, welche Publikumssegmente er anspricht. Zitate aus "Variety" und "The Hollywood Reporter" sind wichtig für die Werbung. Ihr Urteil kann erst recht während der Awards Season einflussreich sein.

Im Gegenzug müssen diese Blätter die Nähe zur Branche pflegen. Man ist aufeinander angewiesen. Mithin entschied sich die Chefredaktion von "Variety", Harveys Kritik online eine Entschuldigung voranzustellen, in der sie die „unsensible“ Wortwahl in einigen Passagen bedauert. Die Passagen selbst entfernte sie jedoch nicht. Having your cake and eating it, too: Hollywood-Entschuldigungskultur in ihrer heuchlerischsten Ausprägung.

Die "National Society of Film Critics" hat die Zeitschrift dafür gerade scharf verurteilt. Ihr Umgang mit Harvey sei "schäbig", er untergrabe die Integrität des Kritikers. Falls die Redaktion die inkriminierten Stellen tatsächlich problematisch fand, hätte sie die Möglichkeit nutzen können, sie vor Erscheinen gemeinsam mit Harvey zu redigieren. Statt dessen habe sie zynisch vor der Macht Hollywoods kapituliert. Damit haben die amerikanischen Kollegen Anstand und Selbstbewusstsein bewiesen. Einerseits. Wenn man die Causa in den Kategorien eines Machtkampfs betrachtet, ist eine bekannte Schauspielerin selbstverständlich in der besseren Position als ein Filmkritiker. Aber das muss man nicht. Mehrere Kritikerverbände haben Carey Mulligan inzwischen für ihre Leistung ausgezeichnet. Das war keine Frage des Anstands oder des Kuchens. Sie haben ihre Arbeit gemacht.

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