Das Warten ist vorüber

Am Ende blieben nur noch die Blautöne übrig. Nach zwei Jahren war das Plakat fast ausgeblichen. Die Sonne hatte unerbittlich darauf geschienen, gleichviel, ob nun Lockdown herrschte oder eine Periode, in der das Kino öffnen durfte. Auf dem Weg zum Markt machte ich in dieser Zeit oft einen kleinen Umweg, um kurz am "Capitol" nach dem Rechten zu sehen. In den übrigen Schaufenstern wurden die Plakate regelmäßig ausgetauscht. Aber das für »Keine Zeit zu sterben« blieb an seinem Platz. Es hatte seinen Dienst noch nicht getan.

Vor ein paar Wochen wurde es durch ein neues ersetzt. Die Aussicht wurde aufgefrischt, weil nun der Filmstart unwiderruflich bevorstand. Für die Betreiber des letzten in Herford verbliebenen Kinos war das eine gute Nachricht. (Genauer gesagt, und das ist in diesem Zusammenhang nicht ohne metaphorischen Belang, ist es ein seit gut einem Jahrzehnt wiederbelebtes Kino.) Sie hatten lange auf sie gewartet, obwohl sie seit der Wiedereröffnung Ende Juni auch mit anderen Titeln ein gutes Geschäft machten, namentlich dem 9. Teil der "Fast and Furious"-Saga. Die Auslastung ihrer vier Säle liegt derzeit zehn bis 20 Prozent unter dem Niveau vor Corona. Das Filmtheater konnte Daniel Craigs letztem Einsatz als 007 also einigermaßen gelassen entgegensehen. Der Vorverkauf begann Mitte September und ließ sich gut an, sehr gut sogar. "James Bond ist unser Heilsbringer", zitierte eine der lokalen Tageszeitungen den Programmchef des "Capitol". Die Welt und das Kino retten, der Filmtitel könne programmatischer nicht sein, fand er. 2015 war »Spectre« der dritterfolgreichste Film in diesem Kino gewesen, knapp abgeschlagen hinter einer "Minions"-Folge und ein gutes Stück entfernt vom Jahressieger, dem zweiten Teil von »Fack ju Göhte«. Der 25. Bond soll nun der "Mega-Anschieber" werden, gleichermaßen Konsolidierung einer zurückeroberten Normalität und ein Ausnahmeereignis.

Für mich hatte das Warten gestern Abend ein Ende. Die Pressevorführung im Cubix am Berliner Alexanderplatz war für 21 Uhr angesetzt, das war gewiss bundesweit so – sie sollte nicht vor der Londoner Premiere beginnen. Es galt eine Sperrfrist bis 1 Uhr heute morgen. Ich war heilfroh, dass ich, anders als viele Kollegen, nicht noch in der Nacht eine Kritik schreiben musste. Überhaupt bin ich froh, den Film nicht rezensieren zu müssen. Als die Vorstellung gegen Mitternacht vorüber war, verließ ich das Kino in einem Schockzustand. Mit Glück entwischte ich den Pressebetreuern, die, Wegelagerern gleich, erste Reaktionen einholen sollten. Zu viele widersprüchliche Gefühle, ich hätte keinen vernünftigen Satz herausgebracht. Im Vorbeigehen schnappte ich auf, wie eine Befragte antwortete: "Ein typischer Bond eben." Hatten wir den selben Film gesehen?

Heute früh ist die Professionalität noch nicht zurückgekehrt. Auch meine Nacht war unruhig. Ich bin nach wie vor Zivilist, ein Kinogänger, der sich vor einigen Jahren nicht vorstellen konnte, dass ein Bond-Film ein so aufwühlend emotionales Erlebnis werden würde. Aus dem grandiosen Quartett ist ein verstörendes Quintett geworden. Das große Geheimnis ist gelüftet, aber es soll bewahrt bleiben für möglichst lange Zeit. Also kein Urteil, sondern eine ungeschützte Stimmung: Ich fühle mich beraubt und bereichert zugleich. Hätten mich Craigs vier vorangegangenen Auftritte nicht vorbereiten müssen? Einstimmen konnten sie mich nicht auf das, was in »Keine Zeit zu sterben« geschieht.

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