Chronik eines angekündigten Feuers

Am vergangenen Donnerstag brannte die Vila Leopoldina, ein Lager der Cinemateca Brasileira, nieder. Auslöser des Brandes war nach Angaben der Feuerwehr von Sao Paulo ein Kurzschluss. Menschen kamen nicht zu Schaden, was erst einmal eine gute Nachricht ist. Regisseur Kléber Mendonca Filho weigert sich, von einem Unglück zu sprechen. Er nennt das Feuer "einen Angriff auf unsere Kultur".

Die im Oktober 1946 gegründete Cinemateca verfügt über eine der wichtigsten Sammlungen Südamerikas, vielleicht die wichtigste. In dem Gebäude lagerte sie auf einer Fläche von 6500 Quadratmetern einen beträchtlichen Teil ihres Schriftgutarchivs (rund vier Tonnen), zahlreiche Exponate für die Dauer- und weitere Ausstellungen des Hauses, sowie etwa 2000 Filmkopien. Dass in Kinematheken Feuer ausbrechen, geschieht leider nicht selten. In den 74 Jahren ihres Bestehen passierte das in der Cinemateca bisher vier Mal.

Die Verluste bei Archivbränden sind unschätzbar. Niemand kann beispielsweise genau beziffern, welchen Schaden die Brände in der Cinémathèqe francaise Ende der 1950er und in den 1980ern anrichteten. Das lag vor allem daran, dass Henri Langlois sich weigerte, die Bestände zu katalogisieren (er hatte Angst, dass Produzenten und Verleiher eventuell Filme zurückfordern könnten, die sie ihm überlassen hatten). In Sao Paulo wurde hingegen, wie in allen modernen Kinematheken, längst nach streng wissenschaftlichen Kriterien gesammelt. Die hohe Luftfeuchtigkeit erfordert eine besondere Sorgfalt bei der Konservierung, Auch hier gilt Brasilien als vorbildlich. In der Vergangenheit waren für Brände in Kinematheken oft die leicht entflammbaren Filmkopien auf altem Nitro-Material verantwortlich. Die werden von der Brasileira indes in einem anderen Gebäude aufbewahrt, der Vila Clementino.

Auch menschlichem Versagen kann die Feuerbrunst nicht angelastet werden, denn es war niemand vor Ort. Seit dem 7. August 2020, fast auf den Tag genau vor einem Jahr, ist die Cinemateca auf Geheiß der Bundesregierung und mit Polizeigewalt geschlossen. Ihre 52 Angestellten wurden am Tag darauf entlassen. Jair Bolsonaros Verachtung für die Kultur ist inzwischen sprichwörtlich. Eine seiner ersten Amtshandlungen nach seiner umstrittenen Wahl 2019 bestand darin, den Posten des Kulturministers abzuschaffen. Seither gibt es nur einen Sekretär für kulturelle Fragen. Die Cineteca zog seinen besonderenZorn auf sich, als die Leitung eine vom neuen Regime gewünschte Retrospektive mit Militärfilmen nicht ins Programm nehmen wollte. Ein Abgeordneter aus Sao Paulo konnte zumindest durchsetzen, dass die Cinemateca nicht von der Stromversorgung abgeschaltet wird. Ein Brandschutz soll laut Auskunft der Behörden weiterhin bestanden haben. Aber wo war der in der Nacht des 29. Juli?

Seit Bolsonaros Coup fordern zahlreiche Filmemacher (oder, wie im Falle von Glauber Rocha, deren Erben) ihre Leihgaben an die Institution zurück, was ohne Hilfe der Mitarbeiter natürlich nicht möglich ist. Diese warnten unmittelbar nach ihrer Entlassung in einem gemeinsamen Kommuniqué vor der Bedrohung des Filmerbes. Wenn etwa die Nitro-Kopien nicht regelmäßig inspiziert werden, laufen sie Gefahr, sich selbst zu entzünden. Die Cinemateca, die neben vielen anderen Verdiensten ein wichtiger Förderer des jungen heimischen Kinos war und ihm ein Forum bot, hat viele engagierte Fürsprecher gefunden. Zu ihnen gehört etwa Karim Ainouz (»Die Sehnsucht der Schwester Gusmao«). Nach der Schließung gründete sich eine Initiative namens "SOS Cineteca", die nach eigener Aussage inzwischen auch auf die Unterstützung der Justiz hoffen darf, damit das Haus wieder eröffnet wird. Das Feuer ist in ihren Augen eine Tragödie, die längst vorhersehbar war. Die Empörung geht weit über das Land hinaus.

Ich wurde auf den Brand aufmerksam durch eine Pressemitteilung des Institut Lumière in Lyon. Sie zitiert Kléber Mendonca Filho, dessen großartige Filme hier zu Lande bisher leider nur auf arte (»Aquarius«) oder anspruchsvollen Streamingportalen (»Bacurau«) zu sehen waren. Er protestiert beharrlich gegen Bolsonaros kulturfeindliche Politik und hat dafür zuletzt auch seine Jurytätigkeit in Berlin und Cannes genutzt. Er schreibt: "Es ist so, als besäße Brasilien plötzlich kein Familienalbum mehr. Die Kinemathek ist kein Speicher, sondern ein lebendiger Erinnerungsort unseres Landes."

 

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