Aufgeklärt

Gestern ferngesehen und gefreut. „Girl“ von Lukas Dhont war eine Lücke, die ich schon lange hätte schließen sollen. Und natürlich mehr als das. Vor allem die Entdeckung eines bestimmten Tons, in dem sich heute Geschichten wie die des Transmädchens Lara erzählen lassen.

Lara (Victor Polster) möchte Ballerina werden und steckt in den Vorbereitungen der geschlechtsangleichenden Operation. Der Ballettunterricht ist hart; Mobbing ist sie auch ausgesetzt. Aber es hält sich in Grenzen. Im Wesentlichen erfährt Lara in ihrer Umgebung große Unterstützung. Die des Vaters ist unbedingt, ihr Arzt ist sehr einfühlsam und ermutigend, unter ihren KameradInnen wird ein Lächeln oft erwidert. Das ist das Erstaunliche an Dhonts Film: wie wenig Widerstände sich ihrer Entscheidung in den Weg stellen. „Girl“ ist gewissermaßen ein Drama ohne Konflikt. Als ich diese Formulierung zum ersten Mal las, bezog sie sich auf „Ein Herz im Winter“ von Claude Sautet. Das war 1993, und ich habe sie seither häufig plagiiert. Heute, fast drei Jahrzehnte später, lässt sich dergleichen im Kino noch leichter bewältigen. Es braucht die obligatorischen Hindernisse nicht mehr. Vielmehr ist es spannend genug zuzuschauen, wie innere Prozesse auf der Leinwand in alltägliche Ereignisse übersetzt werden. Es gibt Fragen, deren Antwort warten kann. Welche Freiheit!

„Girl“ ist ein Drama des Entdeckens. Deshalb fand ich die Szenen, in denen Victor Polster den eigenen Körper im Spiegel erkundet, auch nicht voyeuristisch. Man achtet dabei doch vor allem auf seine Augen. Selbstverständlich wäre es unredlich, wenn es in einer solchen Geschichte der Ermutigung nicht auch Raum für Ungeduld, Zweifel und Schmerz gäbe. Die Kämpfe der Familie liegen vor der Geschichte. Gewiss, die wirken fort, aber die Kamera umfängt sie mit Sanftheit und Wärme. So aufgeklärt von einer Welt zu erzählen, die etwas aufgeklärter ist, stelle ich mir dennoch nicht leicht vor. Das kann auch gründlich schiefgehen, die Spuren des Gewollten lassen sich vielleicht nicht ganz tilgen; erst recht, wenn Fördergremien und Redakteure mitreden wollen. Dhonts Film jedoch überzeugt mich als eine Elegie der Zuversicht.

Vor ein paar Wochen studierte ich die „Black List“, jenes irreführend genannte Register unverfilmter Drehbücher, die Hollywood-Insider im vorangegangenen Jahr am stärksten beeindruckt haben und das mich an dieser Stelle schon häufiger beschäftigt hat. Neben den üblichen Stoffen, die auf einer wahren Geschichte beruhen (das Drama um den Mitgründer des Skandalblattes „Vice“, der ausgebootet wird und dann die „Proud Boys“ gründet, stelle ich mir schon aufschlussreich vor) fielen mir vor allem zwei Tendenzen auf. Zum einen sind das interstellare Liebesgeschichten, Reisen, Fluchtbewegungen, die die Erde hinter sich lassen. Zum anderen sind es auffallend viele Transgender-Stoffe.

Im ersten besetzen zwei Transfrauen aus Protest eine Toilette, im zweiten versetzt ein schüchterner Siebzehnjähriger (oder eine Siebzehnjährige, die englische Synopsis ist geschlechtsneutral) die High School in Aufruhr, als er/sie sich in einen Trans-Klassenkameraden verliebt, im dritten springt ein „feisty transgender teen“ einer Asiatin bei, die abgeschoben werden soll. Alle drei stelle ich mir als stolze Ermächtigungserzählungen mit zahlreichen Hindernissen vor. Sie werden sich der Konventionen bedienen müssen, um realisiert werden zu können. Auf der „Black List“ rangieren sie zwar eher weiter unten, mit weniger Nennungen als die oben genannten Stoffe. Aber sie demonstrieren, dass diese Thematik in der Luft liegt. Wird Hollywood sie ignorieren können?

 

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