Panik in den Straßen

»Contagion« (2011). © Warner Bros. Pictures

»Die Suche nach einem Helden muss mit dem beginnen, was ein Held unbedingt braucht – einen Schurken.« Diese Formel wird, einem Mantra gleich, regelmäßig in »Mission:Impossible 2« wiederholt. Es ist fast so, als würde Drehbuchautor Robert Towne Einblick gewähren in seine Werkstatt: Er legt das Kopfzerbrechen dar, das es kostet, für einen Spionagethriller nach Ende des Kalten Krieges noch einen ernstzunehmenden Bösewicht zu finden.

Der Aufhänger des Plots ist ein im Labor entwickeltes Killervirus, gegen das ein Impfstoff gefunden werden muss. Das macht »M:I 2« nicht zum Film der Stunde. Das Virus ist eher ein MacGuffin (fürs Kino ja ohnehin eine Herausforderung, da mit dem bloßen Auge nicht zu sehen); Tom Cruise muss andere, leider nicht ebenbürtige Gegenspieler ausschalten. Als ein triftigerer Gewährsmann der Aktualität wird vielmehr »Contagion« gehandelt, den Steven Soderbergh vor gut einem Jahrzehnt gedreht hat. Auf allen Streamingplattformen, die ihn im Angebot haben, liegt er momentan weit vorn. Ist er das filmische Alarmsignal, dessen Echo uns hoffentlich nicht zu spät erreicht?

Bis vor ein paar Monaten bedeutete Corona für mich in erster Linie ein Zigarrenformat, dessen Ringmaß mir immer ein wenig zu schmal war. (Allerdings kann es sehr elegant in der Hand liegen, wie Joan Fontaines Ehemann in »Brief einer Unbekannten« demonstriert.). Dass es das gleichnamige Virus schon lange vor Ausbruch der Epidemie gab, wurde mir erst bewusst, als ich las, dass Adèle Haenel bereits 2014 in »Liebe auf den ersten Schlag« von ihm spricht. Da spielt sie eine junge Rekrutin, die den Weltuntergang nahen sieht und sich wappnen will. Drei Jahre später tritt ein Coronavirus in »Asterix in Italien« auf. So heißt ein finsterer Rivale beim Wagenrennen – allerdings nur im französischen Original (»Coronavirus et son ami Bacillus«), der deutsche Übersetzer schreckte vor den medizinischen Assoziationen zurück, den dieser Name auslösen könnte. Eine düstere Prophezeiung wollen Verschwörungstheoretiker in dem 1981 erschienenen Roman »Die Augen der Dunkelheit« von Dean Koontz ausfindig gemacht haben, wo ein Virus namens »Wuhan-400« todbringend auf den Plan tritt.

Es ist noch nicht abzusehen, ob Koontz' Buch nun einen zweiten Atem in den Buchläden erleben wird. Fest steht jedoch, dass Albert Camus' »Die Pest« von 1947 in Frankreich eine sensationelle Renaissance erfährt. Allein im Januar verkaufte Gallimard mehr Exemplare, als sonst in zwei, drei Jahren. Inzwischen hat Camus' Buch auch in Italien, dem abgeriegelten Land, regen Absatz gefunden. Zuvor stand es an 71. Stelle der Bestsellerliste (an sich schon erstaunlich), nun nimmt es Rang drei ein. Weshalb greifen die Italiener nicht zu Boccaccios »Decamerone«, dem heimischen Klassiker der Pest-Literatur? Der hätte immerhin den Vorzug des Eskapismus, in ihm erzählt sich eine Gruppe von Adligen auf einen Landsitz Geschichten von praller Daseinsfreude, bis nach zehn Tagen die Gefahr in Florenz gebannt ist.

Auch bei Camus geht es am Ende einigermaßen glimpflich aus. Die Epidemie ist nach Durchlaufen des Jahreszyklus' vorüber: Im Frühjahr entdeckt der Arzt Rieux die krankheitserregende Ratte, im Winter wird die Quarantäne von Oran wieder aufgehoben. Camus liefert – im Gegensatz zu Boccacio, wo die Figuren ohne eigenes Zutun gerettet werden – gewissermaßen eine Gebrauchsanleitung für die Krise. Sein Protagonist beteiligt sich aktiv an der Bekämpfung der Empidemie. »Die Pest« wird gern als Parabel auf die Résistance gelesen (Camus nahm den Roman bereits während der deutschen Besatzung in Angriff); tatsächlich obsiegt am Ende die republikanische Solidargemeinschaft.

Die Wiederentdeckung von »Contagion« wird andere Gründe haben. Es hätten sich übrigens noch andere Kandidaten qualifizieren können, etwa »Outbreak« mit Dustin Hoffman oder »Unter Geheimbefehl« (Panic in the Streets) von Elia Kazan. Beide haben den Nachteil größerer Gegenwartsferne. Auch dramaturgisch helfen sie nicht weiter. Bei Kazan bleibt der Ausbruch der Beulenpest auf New Orleans beschränkt, Wolfgang Petersens Thriller denkt die Bedrohung letztlich nur vom US-Publikum her. Beide Filme vergeuden einige Zeit etwas altbacken konstruierten Konflikten zwischen medizinisch-humanitären und militärischen Erwägungen. In ihrer Konstruktion ist nicht genug Raum für die unfassbare Willkür, mit der ein Virus agiert. Seine Herkunft liegt natürlich in der Fremde, bei Kazan ist ein illegaler Einwanderer der Auslöser, in »Outbreak« stammt der Krankheitserreger aus Zaire. Das ist auch bei Soderbergh der Fall (Auslöser ist eine Fledermaus in China, allerdings trägt eine US-Firma Mitschuld an der Verkettung der Ereignisse), aber dank seines weltumspannenden Fokus' lässt sich das Eigene und das Fremde nicht mehr trennen. Die Titel markieren bereits unterschiedliche Bedrohungspotenziale: Ein Ausbruch kann anderswo stattfinden, Ansteckung uns hingegen unbegrenzt betreffen. Ist es die notorische Angstlust, auf die Soderberghs Film zielt? Eventuell stößt er in eine neue Kategorie vor, die Paniklust.

»Contagion« mag nicht mit letzter Konsequenz global gedacht sein – die Schauplätze werden knapp eingeführt mit establishing shots und der dräuenden Angabe ihrer Einwohnerzahl (die bei Genf dann aber schon nicht mehr genannt wird: eben keine Millionenmetropole, im Gegensatz zu Minneapolis) –, aber er entwickelt doch einen leidlichen Begriff von der jeweiligen Urbanität. Man liest und sieht, dass Kowloon der Ort mit der stärksten Einwohnerdichte weltweit ist. »Ein Kino der Agilität« habe ich mir damals notiert. Und: »Soderbergh hat das globale Erzählen ja schon in »Haywire« geübt.« Seinerzeit fand ich die Debatte über das Bloggen als einer Gegenöffentlichkeit neu und noch ganz frisch. »Printmedia is dying, Lorraine, dying«, sagt Jude Law; im Gegenzug heißt es an anderer Stelle »Blogging is not writing. It's graffiti with punctuation.« In neun Jahren hat sich viel geändert. Aber unser Zeitgenosse ist der Film nun erst recht.

Jetzt fielen mir andere Dinge auf, Soderberghs fast haptische Inszenierung etwa. Der Film setzt ein mit Gwyneth Paltrows Hustenanfall. Die Kamera fokussiert sich fortan manisch, fast enzyklopädisch auf Alltagsobjekte, die potenzielle Überträger sind, Türklinken, Handys, Liftschalter, eine Schale mit Erdnüssen. Soderbergh findet die angstbesetzten Bilder, die Petersen, zumindest nach meiner gnädig verblassten Erinnerung, seinerzeit gar nicht erst suchte. Modern scheint mir auch der chorale Aspekt von »Contagion«: Es geht darin nicht um die Anstrengung einzelner Wissenschaftler, sondern um Teams. Selbstverständlich beschwört Scott Z. Burns' Drehbuch die Notwendigkeit internationaler Kooperation.

Nur Matt Damon, der größte Star im Ensemble, ist praktisch auf sich allein gestellt. Er ist der Witwer von Patient Zero (Paltrow), allerdings immun. Ein privater Nebenstrang handelt davon, dass er seine Tochter von aller Welt isolieren will. Ein Abschied von klassischen Rollenbildern. Damon ist kein tatkräftiger Held; die Rettung der Menschheit liegt in anderen Händen. Sondern nur einer, dem Dinge widerfahren. So wie uns. Ich vermute, das macht die aktuelle Faszination des Films aus. Wir schauen ihn, weil wir uns dabei als Teil der großen Erzählung fühlen.

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