Berufsgeheimnisse und Lebenslektionen

Einen Film kann man nicht allein machen, schreibt er, man braucht dazu einen Stamm. Das wusste John Boorman natürlich schon vorher. Aber erst, als er im Amazonas „Der Smaragdwald“ drehte, fand er den Begriff dafür. Er passt gut zu diesem Regisseur, für den das Erzählen archaische Wurzeln hat. Ein Schamane, dem er damals sein Metier erklären wollte, erwiderte, sie beide würden denselben Beruf ausüben.

Für Boorman ist das Filmemachen eine Entdeckungsreise, jedes seiner Werke steht unter dem Zeichen der Magie, handelt vom Abenteuer der Begegnung mit dem Fremden, Unwägbaren. Oft spielen sie an exotischen, atemraubenden Schauplätzen. Ordnung und Chaos, Zivilisation und Natur lässt er in „Beim Sterben ist jeder der Erste“ (1972), „Zardoz“ (1973) und „Excalibur“ (1981) bildmächtig aufeinanderprallen. Aber die Suche, auf die er seine Helden schickt, ist nicht allein eine genretypische Initiation, sonder stets eine metaphysische Odyssee, eine Erkundung abgründiger Träume.

„Conclusions“ heißt sein jüngstes und vielleicht letztes Buch. Auch über dieses Wort musste er sich erst Gedanken machen: Fazit, Schlussfolgerung? Insgeheim hätte er es wohl lieber Bekenntnisse genannt, „Confessions“. Warum zieht ihn das Kino so sehr an? Weil wir in der westlichen Hemisphäre so selten geprüft werden, vermutet er, selten nur an unsere Grenzen kommen. Beim Lesen spürt man, wie sehr Boorman damit hadert, dass dies sein Vermächtnis sein könnte. In knapp drei Wochen feiert er seinen 88. Geburtstag. Lassen wir es vorerst damit bewenden, dass er sich Rechenschaft ablegt über sein Leben und die Kunst.

Rasch entscheidet er sich dafür, nicht allein zurück, sondern nach vorn zu blicken. Das gesamte Buch springt hin und her in der Zeit, chaotisch und geordnet. Anfangs blendet er kurz zurück, wie er sich nach dem Krieg, als in England die Gasheizung noch mit Münzen gefüttert wurde, zum ersten Mal hinter eine Schreibmaschine setzte, um Geschichten zu schreiben. Sein Handwerk lernte er dann als Cutter beim Radio und beim Fernsehen; eine Filmschule gab es seines Wissens nach damals nur in Polen. Also verwandelt sich „Conclusions“ zeitweilig in ein Lehrbuch für angehende Filmemacher.

Er weiht seine LeserInnen in ein paar tricks of the trade ein. Der Regisseur sollte auf dem Set immer entschlossen auftreten, eine falsche Entscheidung sei besser als gar keine. Bevor er „Action!“ ruft, sollte er sacht die Frisur einer Schauspielerin richten, damit die Darsteller denken: „Er sieht alles, bei ihm bin ich in guten Händen.“ Nie sollte er eine Großaufnahme der Augen drehen, denn Gefühle entdecken wir nur in ihrem Zusammenspiel mit dem ganzen Gesicht. Eine Rolle sollte er umschreiben, damit sie zum Darsteller passt; andersherum würde es nie funktionieren. Der Zwischenschnitt auf einen Fluss suggeriere immer Fortschritt (das habe ich an dieser Stelle vor ein paar Monaten mal bei ihm geklaut). Mitunter kommt ihm seine Bescheidenheit in die Quere: Oft käme es einfach aufs Glück an. Wem soll das weiterhelfen? Nützlicher ist es, wenn Boorman von seiner Crew lernt. Auf die Frage, wohin er seine Kamera richte, antwortet Conrad Hall: auf die Geschichte. Und ein anderer Kameramann warnte ihn einmal, eine schöne Einstellung könne den ganzen Film verderben.

Er ist, obwohl er abgeschieden in Irland lebt (die Beschreibung seiner Nachbarn ist großartig, sie bildet mit Zeichnungen und eigenen Gedichten den Schlussteil des Buches), noch immer ein eifriger Kinogänger. Mit „Roma“ habe Alfonso Cuaron das Kino neu erfunden, weil er auf Nahaufnahmen verzichte. Das sei eine Revolution wie einst „2001“. Über Kubrick allerdings, der ihn oft anrief (weil er Erkundingungen einholen wollte, was aber nur der Vorwand eines Eremiten war), hat er seine eigene Meinung: „I wish I could say nothing so effectively as he does.“ Boorman ist immer gut, wenn er voll abständiger Bewunderung über Kollegen schreibt. „If God made a home movie“, sagt er über Malicks „The Tree of Life“, „it would look something like that.“ An dieser Stelle kam mir seine Empörung über Peter Greenaway in den Sinn, von der ich früher gelesen hatte. Er war fasziniert von dessen technischen Innovationen und entsetzt, wie diesem in „Prosperos Bücher“ etwas gelang, das er für unmöglich hielt: Shakespeares „Der Sturm“ all seiner Menschlichkeit zu berauben. Dieser Kollege ist ihm wirklich ein Dorn im Auge, alles wirkt so definitiv bei diesem Kerl, wie in Stein gemeißelt, hat der nie Zweifel?

Die Lektüre hatte mir Lust gemacht, Boormans frühere Bücher zu lesen, „Adventures of a Suburban Boy“, den ersten Teil seiner Autobiographie, sowie sein Tagebuch in „Projections“, dem wunderbaren Forum für Filmemacher, das er in den 1990ern zusammen mit Walter Donohue lancierte. Ich war verblüfft, wie er oft er die gleichen Geschichten noch einmal erzählte. Bei Nathaniel Hawthornes „Twice told tales“, den zweimal erzählten Geschichten, leuchtete mir dergleichen ein, sie waren zuerst unter Pseudonym erschienen und dann erneut unter seinem Namen. Aber Boormans Hang zum Selbstremake kam mir dann doch befremdlich vor. All seine Bücher sind im selben Verlag erschienen, bei „faber and faber“. Sollte es in diesem vorzüglichen Haus keinen Lektor geben, der den Überblick behält und die Autoren in die Schranken weist?

Boormans thrice-told tales variieren, aber nicht erheblich. Manche werden beim zweiten oder dritten Mal prägnanter, aber längst nicht alle. Das nimmt man in Kauf, denn seine Prosa ist lebendig, anspielungsreich und voller Charakternähe: Er kann, auch in der Kürze, eingehend porträtieren. Seine Neugier dauert an. Er scheint frisch zu entdecken, was er vergaß. Es gibt nichts Abgeklärtes in "Conclusions". Die Hartnäckigkeit, mit der er auf gewisse Themen und Begegnungen zurückkommt, mutet obsessiv an. Das ist bewegend. Seine Ironie ist robust und dezent genug, um das Leben gewähren zu lassen. Aber er wird einfach nicht fertig mit bestimmten Ereignissen. Boormans Bedauern über das Scheitern seiner Ehen ist spürbar, nicht als Larmoyanz, sondern späte Erkenntnis. Seine Frau Christel stammte aus einem Dorf in Schleswig-Holstein, der Besuch dort ist sehr putzig geschildert, und ihr Liebeswerben war so vertrackt, dass es eine eigenen Film abgäbe. Aber mehr noch kreisen seine Erinnerungen um zwei Menschen.

Zum einen um Lee Marvin, mit dem er sein Hollywooddebüt „Point Blank“ drehte, diese abenteuerliche Liaison zwischen Hollywoodthriller und europäischer Avantgarde. Der Star hält an dem unbekannten Regisseur aus England trotz aller Einwände des Studios fest. Damit wird eine Freundschaft besiegelt, die bis zu Marvins Tod andauert. Boorman ist fasziniert und erschrocken, wie stark die traumatischen Erlebnisse im Pazifikkrieg dessen Karriere heimsuchen und in der Gewalt seiner Figuren fortdauert. Beide drehen 1969 einen Film darüber, „Die Hölle sind wir“, aber damit sind die Geister nicht gebannt.

Der Kern seines Lebensbekenntnisses aber ist der frühe Krebstod seiner Tochter Telsche. Auch seine anderen Kinder setzt Boorman liebevoll in ihr Recht. Er ist, wie Powers Boothe in „Der Smaragdwald“, ein Vater, der von seinen Kindern lernt. Telsche trat, wie Charley und die anderen, in seinen Filmen auf; sie schrieb ein Drehbuch mit dem Vater. Die Lücke, die sie hinterlässt, ist entsetzlich. In jedem Jahr besucht John mit ihren Geschwistern das Grab in Montmartre. Sie starb am Valentinstag. Auf jedem Flug wird der Vater von verliebten Paaren gefragt, ob er denn auch aus Liebe nach Paris reisen würde. Ja, antwortet er dann, aus diesem Grund.

 

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