Beraten und Zustimmen

Am Samstag hat der amtierende US-Präsident die Nachfolgerin von Ruth Bader Ginsberg am Obersten Gerichtshof nominiert. Es war nicht anders zu erwarten. Die Republikaner wollen den vakanten Posten um jeden Preis noch vor den Wahlen am 3. November in ihrem Sinne besetzt wissen. Damit setzt sich die Partei über den ausdrücklichen Wunsch der Verstorbenen hinweg.

Nach ihrem Tod am 18. September hatte ihre Enkeltochter diesen letzten Wunsch verkündet: in der Hoffnung, dass er respektiert würde. Der vorletzte der Bundesrichterin war gewesen, noch bis zur Wahl durchzuhalten. Aber der Krebs hatte sie überstimmt. Bei der Berufung steht viel auf dem Spiel: Die Richter üben ihr Amt auf Lebenszeit aus (sofern sie nicht auf eigenen Wunsch ausscheiden) und können so die amerikanische Rechtsprechung nachhaltig prägen, können Einfluss nehmen auf gesellschaftspolitische Entwicklungen, ja: auf das Zusammenleben der Amerikaner insgesamt. Diesem Amt wohnt eine enorme Würde inne, die auch diesmal von parteipolitischem Geschacher befleckt wird.

Die Republikaner, die vor vier Jahren noch Präsident Obamas Nominierung eines liberalen Kandidaten vor Ende seiner Amtszeit moralisch verurteilten, wollen nun rasch ihre Mehrheit im Senat nutzen, um die Berufung von Amy Coney Barrett durchzupeitschen. Damit würde die Übermacht konservativer Bundesrichter gegenüber liberalen mit einem Stimmenverhältnis von sechs zu drei zementiert. Die Nominierte ist ein feuchter Traum für Erzkonservative, eine strikte Abtreibungsgegnerin und Befürworterin des Rechts auf Waffenbesitz sowie eine ausgesprochene Feindin von Obamacare; sie gilt als business friendly. Sie ist nicht nur tiefreligiös, sondern wohl auch Mitglied jener Sekte, die unrühmliches Vorbild für „The Handmaid's tale“ ist. Auch die Unterhaltungsbranche ist erschüttert, da diese Richterin wahrscheinlich Minderheitenrechte einschränken wird und womöglich nicht die Trennung zwischen Staat und Kirche versteht. Ihre Nominierung fügt sich ins Bild eines nicht nur parteipolitischer Hinsicht antidemokratischen Unterfangens, das die aktuelle Administration verfolgt. Comey Barett ist jung, könnte dem Supreme Court mithin auf Jahrzehnte angehören. Dass sie über wenig Erfahrung als Richterin verfügt, passt wiederum zur Besetzungspolitik des Weißen Hauses.

Um den zwar erwartbaren, aber nichtsdestotrotz großen Schock ein wenig zu dämpfen, schauten wir uns gestern „RBG- Ein Leben für die Gerechtigkeit“ an, die atemraubend flotte Hagiographie der gefeierten Bundesrichterin. Nach ihrem Tod haben eine ganze Reihe von Berliner Kinos den Dokumentarfilm wieder auf den Spielplan gesetzt. Das ist ein unbestreitbarer Vorzug der aktuellen Krise: Die Kinos können plötzlich auf Todesfälle reagieren, das war zuvor schon bei Ennio Morricone und Chadwick Boseman der Fall. „RBG“ lief zwar gerade erst im Fernsehen (ich glaube, der WDR nahm ihn kurzfristig ins Programm), aber es war ungleich bewegender, ihn auf einer großen Leinwand zu sehen. Man fühlte sich dieser fabelhaften Frau einfach näher in den gut zwei Stunden, die man in ihrer Gesellschaft verbringen konnte. Danach hatten wir keinen Zweifel: Die amerikanische Demokratie funktionierte besser, solange sie lebte.

Silvia Hallensleben war in ihrer Kritik für „epd Film“ durchaus gespalten. Das kann ich in vielen Punkten nachvollziehen. Aber „RBG“ nun, kaum zwei Jahre später zu sehen, war ein nostalgisches Erlebnis. Er spielt in einer Demokratie, in der es um mehr geht als die Launen eines Präsidenten. Nicht nur haben mich Mut, Unermüdlichkeit und Eleganz begeistert, mit denen RBG für die Gleichberechtigung stritt. Die Kollegialität, mit der sie und ihr heftiger Antipode Antonin Scalia einander begegneten, ist beeindruckend. Der Respekt, den Orrin Hatch ihr zollt, der führende Vertreter der Republikaner bei ihrer Senatsanhörung 1993, wirkt im heutigen politischen Klima unerhört. Der Vorsitzende des Justizausschusses war damals der Senator von Delaware, Joe Biden. Man erkennt ihn erst auf den zweiten Blick. Dass Bader Ginsburg in den Supreme Court gewählt wurde, war für ihn ein großer Erfolg. Sie trat die würdige Nachfolge des Bürgerrechtlers Thurgood Marshall an.

Zwei Jahre zuvor hatte Biden eine bittere Niederlage erlebt, als Clarence Thomas für den Obersten Gerichtshof kandidierte. Er taucht in „RBG“ nur auf Fotos auf: als Rechtsaußen. Dessen ehemalige Assistentin, die Jura-Professorin Anita Hill, beschuldigte ihn der sexuellen Belästigung (ein Vorwurf, der ihm letztlich ebenso wenig schadete wie 27 Jahre später Brett Kavanaugh - die Geschichte wiederholt sich, tatsächlich oft als Farce). Die auf C-Span übertragene Senatsanhörung Thomas' war seinerzeit ein epochales Medienereignis, an das ich vor ein paar Wochen erinnert wurde, als ich einen alten Text von David Thomson in „Film Comment“ las. Er erschien in der Januar-Februar-Ausgabe 1992, ist im Archiv der Zeitschrift aber leider nicht abrufbar. Ein merkwürdiges Zeitdokument und eine hellsichtige Medienanalyse. Mir fehlen Raum und Zeit, den Essay angemessen zu würdigen. Nur so viel: Thomson hätte sich gewünscht, dass Otto Preminger, der Regisseur von „Advise and Consent“ (Sturm über Washington) den Prozess in Szene gesetzt hätte. Und dass der wohlmeinende, aufrichtige Joe Biden ein so souveräner, gewitzter Mehrheitsbeschaffer wie Walter Pidgeon in Premingers Innenansicht der Washingtoner Politik gewesen wäre. Thomson ist fasziniert von der Wandlung, die Clarence Thomas vor den Fernsehkameras darstellt. Seine Nominierung geißelt er als zynisch – das würde er heute wohl auch über den Amy-Comey-Barrett- Schachzug sagen -, muss aber widerwillig feststellen, dass Thomas in der zweiten Runde der Anhörungen überzeugend wirkt.

Die Geschichte könnte sich in ähnlicher Weise wiederholen; an die amerikanische Demokratie als Farce haben wir uns längst gewöhnt. Der Titel von Premingers Film stimmt mich skeptisch: „Advise and Consent“, Beraten und Zustimmen. Dabei müsste der Ausgang einer demokratischen Anhörung doch offen sein. Und der Justizausschuss des Senats wäre gut beraten, wenn er Ruth Bader Ginsburgs Vermächtnis in Ehren halten würde. Sie war berühmt für ihr couragiertes „I dissent“.

 

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