Schatten der Vergangenheit

Den folgenreichsten Gedanken zum Werk von Anthony Mann entnahm ich weder einer Kritik, einem Buch noch einem Vortrag, er stammt auch nicht aus dem Bonusmaterial einer DVD. Nicht, dass darin nicht jeweils zahlreiche kluge Interpretationen zu finden wären. Aber den Schlüssel lieferte mir eine unverhoffte Quelle: ein Synchronsprecher.

Dazu kam es während meiner Studienzeit. Damals passierte es noch gelegentlich, dass ich zwischen zwei Filmen ein Schnellrestaurant auf dem Ku'damm aufsuchte. Eines Abends erklang am Nachbartisch eine Stimme, die mir sehr vertraut war: Ich meinte, plötzlich James Stewart zu hören. Sie gehörte einem Mann, der ihm durchaus ähnelte. Auch er war hochgewachsen, ein soignierter, älterer Herr mit ausdrucksvollen, vertrauenerweckenden Zügen, der seinen Mantel elegant über den benachbarten Stuhl gelegt hatte. Auf dem dritten und vierten saßen eine junge Frau und ihre Tochter. Er berichtete ihnen von seinem eigentümlichen Beruf und den berühmten Rollen, die er gesprochen hatte. Allerdings nahmen sie wenig Interesse an seinen Erzählungen; Western lagen ihnen, wohl generationsbedingt, nicht so sehr. Ohnehin war ein solcher Herr hier fehl am Platz.

Als das belauschte Gespräch immer mehr zum Erliegen kam, nahm ich meinen Mut zusammen und sprach ihn an. Sein Name war mir entfallen, er nannte ihn zuvorkommend rasch: Siegmar Schneider. Er hatte gerade die Hitchcock-Filme mit Stewart, die in den 1980ern wieder herauskamen, neu synchronisiert. Nicht ohne Stolz berichtete er, der Synchronregisseur habe anfangs noch befürchtet, sie würde nicht mehr passen. Aber das tat sie drei Jahrzehnte später immer noch. Sein unverwechselbares Timbre kannte ich noch aus anderen Synchronrollen, etwa als deutsche Stimme Laurence Oliviers in »Mord mit kleinen Fehlern« (wo er Hansjörg Felmy als kongenialen Partner hatte). Besonders stolz war er auf die acht höchst unterschiedlichen Figuren, die Alec Guiness in »Adel verpflichtet« spielt und die er entsprechend unterschiedlich sprach. Dass er Peter Sellers in »Dr. Seltsam« gesprochen hatte, überraschte mich. Aber hauptsächlich sprachen wir natürlich über James Stewart, mit dem er ein paar Jahre zuvor gemeinsam auf der Bühne gestanden hatte, als die Berlinale ihm eine Hommage widmete. Amüsiert schilderte er, wie absurd dieses Zusammentreffen für deutsche Zuhörer gewesen sein musste, da sie Stewart vollends mit seiner Stimme assoziierten (Peter Passetti und die anderen passten ja wirklich nicht so recht) und ihn nun im Original sprechen hörten.

Irgendwann verließen wir das Fastfood-Restaurant, dessen nüchterne, kindische Atmosphäre wir erleichtert hinter uns ließen. Das Hotel, in dem die Synchronfirma ihn untergebracht hatte, lag in einer Nebenstraße und er nahm meinen Vorschlag gern an, ihn dorthin zu begleiten. Schneider war zwar gebürtiger Berliner, lebte nun aber anderswo. Er erzählte von seiner Zeit als Ensemblemitglied im Schiller-Theater und von einem Engagement am Renaissance-Theater. Und damit schlug er unversehens den Bogen zu den Anthony-Mann-Western. Wenn er nämlich die Stewart-Figuren sprach, erinnerte er sich an Stücke von Lessing und anderen deutschen Klassikern, in denen der eigentliche Konflikt sich schon längst zugetragen hatte. Ihn faszinierte dieses Danach, in dem Stewarts Westernhelden agierten, die Zwänge und Schuld, die ihnen die Vergangenheit auferlegte. Bei Mann muss der Konflikt nun durch Opfer oder Rache bewältigt werden. Das Gewicht getroffener Entscheidungen, besiegelter Schicksale und erlebter Demütigungen lastet von Anfang an schwer auf den Geschichten.

Wie sehr dies auch für die anderen Genres gilt, in denen Mann arbeitete, kann man seit gestern in einer kleinen Werkschau im Filmmuseum Frankfurt entdecken. Genau ein Drittel, also 13 seiner 39 Regiearbeiten läuft da. Mann lohnt die Wiederentdeckung stets aufs Neue. In diesem Jahrtausend hat sich das schon häufig gezeigt, zuerst 2003 in La Rochelle, dann in San Sebastian und 2006 in der Cinémathèque francaise, wo ich erstaunt feststellen durfte, dass selbst eine seiner obskuren frühen Filme die Säle füllen kann: „Desperate“ zusammen mit 120 anderen Cinéphilen zu sehen, war schon ein erhebendes Erlebnis. Die Frankfurter Schau trifft eine reizvolle Auswahl, deckt zwar alle Phasen ab, legt aber einen besonderen Fokus auf die frühen Films Noir. Auch die wirken ja fort als eine ästhetische Vergangenheit, die die großen Western der 1950er prägt und die Epen, die Mann im Jahrzehnt darauf drehte. Ich war gerade in Frankfurt, musste allerdings am Morgen vor Beginn der Filmreihe abreisen. Das Programmheft fand ich jedoch in meinem Hotel und studierte es neugierig.

Der Anlass für die Werkschau ist offenkundig die Monographie, die Ines Bayer gerade bei Bertz+Fischer veröffentlicht hat. Über sie habe ich viel Gutes gelesen und muss mich endlich mal an den Verlag wenden, um ein Rezensionsexemplar zu bestellen. Ich komme hoffentlich an dieser Stelle bald darauf zurück. "Kino der Verwundung" hat Bayer es genannt, und der physische Aspekt der moralischen Erzählungen Manns ist ein triftiger Ansatz. Ich vermute, sie hat auch an der Filmauswahl mitgewirkt, die unerwartete Schneisen schlägt. Dass die vergleichsweise unbekannten Schwarzweißwestern »Fluch des Blutes« und »Die Farm der Bessessenen« laufen, ist schon mal ein ermutigendes Zeichen. Ines Bayer führt bis zum Ende des Monats in einige der Filme ein. Vermutlich stammen auch die hübschen Kurztexte von ihr. »El Cid« als den „vielleicht lässigsten Monumentalfilm des klassischen Hollywood“ zu titulieren, darauf muss man erst einmal kommen! Und das famose "Danach"? Da fällt mir natürlich augenblicklich »El Cid« ein, der mit den Nachwirkungen einer Schlacht anhebt, ebenso wie der klaustrophobische Kriegsfilm »Tag ohne Ende«. Lange Schwenks fangen jeweils ein Klima von Verheerung und Demoralisierung ein. Auch in »Meuterei am Schlangenfluss« und »Der Mann von Laramie« lernen wir Stewart nicht am Nullpunkt kennen, sondern fiebern mit, wie er seine verlorene Ehre wiederherstellt. Ich bin gespannt, was Bayer zu sagen hat über das, was dem Danach folgt.

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