Kurze Flitterwochen

Sie trugen meist dicke Mäntel, denn es herrschte vorwiegend Herbst oder Winter in den Filmen. Ihr Dasein war in Grau getaucht und ihr Zuhause eng und stickig. Um sich Abwechslung zu verschaffen, erklommen sie in ihrer Freizeit die Hügel über den Industriestädten und blickten auf die Schornsteine herab, die damals noch unaufhörlich rauchten. Unweigerlich wurde eines der Mädchen schwanger, was erst einmal das Ende der ersehnten Freiheit bedeutete.

Das sind die ersten Eindrücke, die mir zu der New Wave in den Sinn kommen, die Ende der 1950er Jahre im britischen Kino losbrach. Es war schwierig, der Bewegung den passenden Namen zu geben. Das proletarische Milieu, das sie zeigte, war dieser Kinematographie bis dahin fremd; sie war bürgerlich ausgerichtet. Zuweilen war von Spülsteinrealismus die Rede, obwohl sich die Handlung eher selten in der Küche zutrug. Da die Figuren rebellierten und sich weigerten, Opfer der Verhältnisse zu sein, taufte man sie, ihre Autoren und Regisseure rasch "angry young men" - aber damit unterschlug man die um Unabhängigkeit kämpfenden Frauen, die Rita Tushingham verkörperte. Geben wir uns also vorerst mit der Neuen Welle zufrieden, denn das ordnet sie in die Aufbruchsbewegungen ein, die sich zeitgleich auf dem Kontinent und anderswo in der Welt zu Wort meldeten.

Die Talentschmiede dieser Bewegung war die Produktionsfirma Woodfall Films, der das Filmmuseum München noch bis zum 3. April eine Retrospektive widmet (https://www.muenchner-stadtmuseum.de/film/filmreihen/woodfall-film-productions.html). Gegründet wurde sie von Tony Richardson, der als Regisseur schon über etwas Kino- und Bühnenerfahrung verfügte, dem Dramatiker John Osborne und dem kanadischen Impresario Harry Saltzman, um ihren Bühnenerfolg »Blick zurück im Zorn« fürs Kino zu adaptieren. Die Drei wollten sich absetzen von den großen Konzernen wie der Rank Organisation und der Studiokünstlichkeit von Pinewood. Saltzman, der ohnehin nicht so recht in das Trio passte und kurz darauf als Mitproduzent der Bond-Filme seine wahre Berufung fand, hätte es schon genügt, Osbornes Stück und dessen Nachfolger »Der Entertainer« im Atelier zu drehen. Seine Partner hatten kühnere Visionen. Nach dem Kassenerfolg von »Samstagnacht bis Sonntagmorgen« 1960 konnten sie ihren Plan in die Tat umsetzen, »Bitterer Honig« als ersten britischen Film komplett an Realschauplätzen zu drehen. Diese luftige Freizügigkeit verband sie mit der Nouvelle Vague, die tendenziell jedoch eine bürgerliche Angelegenheit war. Die jungen Briten verfolgten zwar neugierig, was ihre französischen Kollegen machten, aber sie schrieben sich einen spröderen Sozialrealismus auf die Fahnen.

Dafür brauchten sie Verbündete. Die fanden sie in Schriftstellern, die aus der Arbeiterklasse stammten (Alan Silitoe, Shelagh Delaney); in einer aufstrebenden Generation von Darstellern, die zu einem alltäglichen, ruppigeren Körperspiel fanden und, das war damals unerhört, regionale Dialekte sprachen (Albert Finney, Tom Courtenay, Tushingham); in dem Kameramann Walter Lassally, der vom Dokumentarfilm kam; dem ebenso experimentierfreudigen Cutter Anthony Gibbs sowie dem Komponisten John Addison. Die Woodfall-Produktionen entstanden fernab von London, erschlossen dem britischen Kino die Industrielandschaften der Midlands und des Nordens als prägnante Schauplätze.

Die wuchtig depressive Stimmung, die ich aus den ersten Woodfall-Produktionen in Erinnerung hatte, gewann bei ihrem Wiedersehen erheblich an Facetten hinzu. Lasallys Kamera scheint sich stets mit den Charakteren zu identifizieren, sie schafft eine Bildsinnlichkeit, die der Grisaille, zumal in »Bitterer Honig«, eine eminent lyrische Dimension verleiht. John Addisons Jazzpartitur für "Die Einsamkeit des Langstreckenläufers" unterstreicht dies; bei aller Melancholie klingt sie heute fast heiter und verspielt, setzt auch satirische Akzente. (Das fröhliche Flötenthema aus Ken Loach' »Kes« ist fast ein Echo darauf; auch die Sportszenen sind sarkastisch unterlegt.) Der Voice-Over-Kommentar stimmt gleich zu Beginn von »Samstagnacht bis Sonntagmorgen« und »Die Einsamkeit des Langstreckenläufers« auf einen Tonfall der Auflehnung ein, der aber auch den Boden bereitet für Szenen der Charakter- und Situationskomik. Courtenay hat mich als "Langstreckenläufer" fast noch mehr beeindruckt als Finney in seiner ersten Starrolle. Die Bandbreite seines Ausdrucks ist eminent, von dem zornigen jungen Blick, den er anfangs auf die Handschellen senkt, über die verschlagene Sensibilität in den Rückblenden bis zum Spott auf die Autoritäten, legt er einen weiten Weg zurück. Sein Gegenspieler als Leiter des Heims für Schwererziehbare, Michael Redgrave, gehört noch der klassischen Schule an, wodurch eine faszinierende Reibung entsteht. Die Besetzung Redgraves ist in mehr als einer Hinsicht subversiv: Er war nicht nur Richardsons Schwiegervater, sondern wohl auch dessen zeitweiliger Liebhaber, was insofern interessant ist, da das Verhältnis der Widersacher im Film ein Flair von Umwerben und späterem Liebesverrat hat.

Mit der Verfilmung des Schelmenromans "Tom Jones" (Zwischen Bett und Galgen) feierte Woodfall seinen größten kommerziellen Erfolg, der zugleich eine Abkehr, fast einen Sündenfall markiert. Es ist die erste Produktion in Farbe, ein nachgerade schwelgerischer Kostümfilm, der allerdings viel über die gesellschaftlichen Hierarchien erzählt. Lassally filmt das wie eine zeitgenössische Geschichte, mit agiler, nervöser Handkamera, die bizarre Fuchsjagd sogar aus dem Helikopter. Mit »Tom Jones« wurde das resolut moderne britische Kino plötzlich auch für amerikanische Investoren sexy.

Er dient gewissermaßen als Scharnier zur Munterkeit der Swinging Sixties; ein Weg, den Richard Lester dann mit »Der gewisse Kniff« noch entschlossener, wenngleich betörend keatonesk beschreitet. »Kes« wirkt da, als Rückbesinnung auf frühere Tugenden, 1969 fast schon wie ein Nachgefecht. Lassally nannte die große Zeit der Firma einmal "a brief honeymoon", als im britischen Kino alles möglich schien. Danach schien Woodfall seine Identität zu verlieren, blieb aber einflussreich. Das Erbe tritt Stephen Frears in seinen frühen Fernseharbeiten an; auch das working-class-Kino von Loach und Mike Leigh wäre ohne die kurzen, heftigen Flitterwochen undenkbar. Der Blick von den Hügeln herab auf die Industriestadt kehrt in Pawel Pawlikowskis "My Summer of Love" zurück, aber diesmal ohne dicke Mäntel.

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