Das letzte Wort

Die Filmgeschichte wartet mit zahllosen Silvesterszenen auf. Der letzte Abend des Jahres ist stets ein privilegierter, erzählerischer Moment: ein zuverlässiger Ausnahmezustand. Um Mitternacht kristallisiert sich immer etwas heraus. Entscheidungen werden getroffen, Schicksale besiegelt. Die Stimmung schlägt um. Den Countdown der Gefühle will das Kino nicht verpassen.

In einer der erlesensten Silvestersequenzen geht es auf den ersten Blick anders zu. Aber auch sie markiert einen Wendepunkt. Sie ist in »Phantom Thread« (Der seidene Faden) von Paul Thomas Anderson zu sehen. Der Modeschöpfer Reynolds Woodcock (Daniel Day-Lewis) und die ehemalige Kellnerin Alma Elson (Vicky Krieps) haben kurz zuvor geheiratet. Es ist von Anfang an kein ungetrübtes Eheglück, vielmehr ein fortgesetzter Machtkampf: Sie muss gegen die ehernen Regeln des Hauses bestehen; die Liebe droht, zwischen seinen Gewohnheiten und seiner Kontrollsucht aufgerieben zu werden. Am Silvesterabend würde es Reynolds vollends genügen, nach dem Essen weiter zu arbeiten. Die Hingabe an seine Kunst kennt keine Ausnahme. Alma hat jedoch eine Einladung zum famosen Chelsea Arts Club Ball erhalten, der sie nachkommen will; im Zweifelsfall auch ohne ihn. Sie ist jünger als er und sie bejaht das Leben. Das pastellfarbene Kleid, das sie beim Hinausgehen trägt, ist atemraubend.

Die Situation ist noch aus anderen Gründen aufgeladen. Die Einladung wurde von dem Sohn einer alten Freundin ausgesprochen, mit der Reynolds bei einem Dinner flirtete. Der Sohn hatte ein Auge auf Alma geworfen. Aber um Eifersucht geht es eigentlich nicht. Als Reynolds ihr verblüfft hinterher blickt, gibt es im Kino stets einen Lacher. Er ist klug. Ich mag den Moment aber auch, weil er von einer insgeheim bestimmt weit verbreiteten Sehnsucht handelt. Jedes Jahr spiele ich mit dem Gedanken, Silvester zu boykottieren. Einfach daheim bleiben. Heute könnte ich den ganzen Abend vor dem Fernseher verbringen, ohne den Sender zu wechseln: Erst das Silvesterkonzert der Berliner Philharmoniker sehen, dann Richard Brooks' prächtigen Western »Die gefürchteten Vier«, gefolgt von einer Dokumentation über Claudia Cardinale, die ich verehre; Mitternacht würde ich dann mit John Wayne als »Teufelshauptmann« verbringen. Aber auch in diesem Jahr gelingt mir diese Verweigerung zum Glück nicht.

»Der seidene Faden« ist unbestimmt im London der 1950er angesiedelt. Auf jeden Fall spielt er vor 1958, denn in dem Jahr wurde der Chelsea Arts Club Ball verboten. Die Veranstaltung in der Royal Albert Hall war berüchtigt für ihre dekadenten Ausschweifungen. Für Andersons Film spielt das keine Rolle. Bei ihm ist die Ausgelassenheit zwar auch immens, aber sittlich vorerst unverfänglich. Die Szenerie ist spektakulär, der Aufwand war enorm. 500 Statisten waren an dem fröhlichen Tumult beteiligt. Möglicherweise ist die Szene ein Echo des Künstlerballs in »Ein Amerikaner in Paris«. Alma vergnügt sich nach Kräften. Und dann taucht Reynolds auf. Er sucht sie von der Balustrade aus.

Ihre Blicke begegnen sich rasch. Ich habe vergessen, ob es in der Szene einen Mitternachtscountdown gibt. Der Moment gehört ihnen ganz allein. Ein schönes Paar, das auf der Tanzfläche ganz ungestört ist. In den deleted scenes der Blu-ray ist noch eine andere Variante des Tanzes zu sehen, eingebunden in eine Montage ihres nun überzeugenden Eheglücks. Sie hat seine Gewohnheiten erfolgreich herausgefordert. Das männliche Genie behält nicht das letzte Wort. Fortan wird Alma die Machtkämpfe im Hause Woodcock für sich entscheiden. Und Reynolds wird nicht der Verlierer sein.

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