Archäologie einer Überwältigung

Ihr Staunen über die Neue Welt ist groß. Ständig fragen sich die Reisenden aus der Schweiz, ob das alles nun reale Menschen sind oder nicht doch Schauspieler aus Hollywood. Diese Frage ist schon berechtigt, wenn man am Roulettetisch in Las Vegas lauter Männer in riesigen Cowboyhüten erblickt und vor den einarmigen Banditen lauter Damen unter der Trockenhaube.

Auch der „wahre“ Wilde Westen hält, was das Kino dem Ehepaar Troller versprochen hat. Dort begegnen sie echten Indianern, Apachen sogar, die sich als überaus friedlich erweisen und Starthilfe leisten, als das Motorrad von Fred und Beatrice in der Wildnis stecken bleibt. Und in San Francisco dürfen sie voller Genugtuung feststellen, dass die alte Hafenstadt noch genau so "salty" ist, wie man es überall liest. Die Trollers aus Zürich haben viel Vorwissen aus zweiter Hand in ihrem Reisegepäck. Das schmälert indes nicht die Überwältigung, die allerorten von ihnen Besitz ergreift. Die dankbaren Touristen wissen, was sie dem Publikum und vor allem dem Sponsor ihrer Expedition schuldig sind.

Eingeladen wurden sie von einem Filmformat: Cinerama finanzierte ihnen unvergessliche Ferien in den USA. Zur selben Zeit schickte die Firma ein Ehepaar aus Kansas auf Europareise. Im Gegensatz zu den unternehmungslustigen Schweizern folgen John und Betty Marsh einer Route, die ihr Mäzen festgelegt hat. Die Zwei sind noch nie aus ihrer Stadt herausgekommen und gerieren sich mustergültig als Arglose im Ausland. Zuerst geht es in die imposante Kulisse der Schweizer Alpen, wo John zum ersten Mal in einen Bob steigt und in rasendem Tempo bergab saust. Gemeinsam schauen sie sich eine Darbietung von „Holiday on Ice“ an, bevor es nach Paris geht, wo Notre Dame, der Louvre und das Lido locken, dessen langbeinige Tänzerinnen John indes allein bewundern darf. Auch die obligatorische Zwiebelsuppe in den Markthallen genießt er ohne seine Frau. Die begeisterten Reiseberichte der zwei Paare legen die Drehbuchautoren ohnehin den Männern in den Mund, denn wir befinden uns immerhin in den 1950ern.

»Cinerama Holiday« war der erfolgreichste Film des Jahres 1955, was man gut nachvollziehen kann, wenn man die atemraubenden Ansichten von beiden Seiten des Atlantiks sieht. Die meisten Cinerama-Filme sind travelogues, also Reiseimpressionen aus allen fünf Kontinenten; sogar die Sowjetunion spielte in einer Tauwetterperiode mit. Das war für fast ein Jahrzehnt schon Attraktion genug, denn Flugreisen waren seinerzeit ein kaum erschwinglicher Luxus. Die Breitwandfilme versprachen der Generation der Baby Boomer eine nachgerade immersive Weltteilhabe. Auch sechs Jahrzehnte später können sie Zuschauer noch faszinieren und manchmal sogar in den Bann schlagen, wie ich am letzten Wochenende miterlebte. In der Cinémathèque francaise sah ich Cinerama-Filme annähernd in ihrem ursprünglichen Format. Ich kannte das Verfahren nur aus Fernseh-Ausstrahlungen von »Das war der Wilde Westen«, wo es überhaupt nicht funktioniert. Es braucht eine große, gekrümmte Leinwand; auf dem Bildschirm wirken die Bewegungen dementsprechend gequetscht.

"Toute la memoire du monde" widmet in jedem Jahr eine Reihe jeweils einem besonderen Filmformat oder-verfahren. Cinerama steht für eine ursprüngliche Schaulust, die an die Anfänge des Kinos als Jahrmarktsattraktion anknüpft. Auf der technischen Höhe seiner Zeit (Breitwand, Stereo) setzt Cinerama fort, was mit den Filmen der Brüder Lumière begann, die ihre Kameraoperateure in die Welt schickten, damit das Publikum daheim sich ein Bild von ihr machen konnte. Es ist das touristische Format par excellence, zelebriert eine noch unkomplizierte Exotik und Folklore, führt zu Paradiesen, die im Kinosessel leicht zu erreichen sind. Eine Zukunft freizügiger Mobilität scheint zum Greifen nahe.

In Paris führten zwei Enthusiasten das Programm vor, David Strohmaier und Randy Gitsch, von denen auch ein immens aufschlussreicher Dokumentarfilm über die Geschichte des Verfahrens stammt. Die Cinémathèque verfügt über einen der wenigen Projektoren, die es heute noch vorführen können (in den USA gibt es einen rechten Fan-Kult, der zu einer kleinen Renaissance in Städten wie Dayton, Ohio, Seattle und Los Angeles führte; auch im englischen Bradford existiert noch ein Projektor, der regelmäßig in Betrieb genommen wird). Im großen, nach Henri Langlois benannten Kinosaal entfaltet das Breitwandformat fast noch seine alte Wirkung. Der verfügt zwar über keine gekrümmte Leinwand, aber Strohmaier hat ein Verfahren namens SmileBox erfunden, das die Kurven simuliert und so das damalige Kinoerlebnis annähernd rekonstruiert. So konnte das Pariser Publikum zum ersten Mal die einstige Pracht wiederentdecken, seit 1972 das letzte, dafür ausgerüstete Kino "Empire Wagram" seinen Betrieb einstellte.

Cinerama war, noch vor CinemaScope, das erste Breitwandverfahren, mit dem das Kino der Konkurrenz durch das Fernsehen trotzen wollte. Am 30. September 1952 fand die Premiere von »This is Cinerama« in einem New Yorker Kino statt. Obwohl er nur in diesem einem Kino lief (das aber ein ganzes Jahr über), avancierte er zum größten Kassenschlager der Saison. Jede Vorführung war eine festliche Angelegenheit, mit Ouvertüre, Vorhang und musikalischem Zwischenakt. Die besten Komponisten arbeiteten für die Firma, darunter Jerome Moross, Alex North und David Raksin. Die ersten Cinerama-Bilder nahmen das Publikum mit auf eine Achterbahn-Fahrt. In welchen Bewegungsrausch dieser Auftakt sie versetzt haben muss, kann man sich noch heute gut vorstellen. Dieses Kino will den Zuschauer hineinziehen, es zielt auf den Du-bist-dabei-Effekt. Die Breite der Leinwand übertrifft fast noch das menschliche Sichtfeld, der Blick kann wandern. Im Taumel der atemraubenden Landschaftspanoramen fiel bestimmt damals niemandem auf, wie oft der Schatten der Kameras im Bild zu sehen ist.

Ich muss gestehen, dass ich keinen der vier vorgeführten Cinerama-Filme ganz gesehen habe. Sie sind so wahnsinnig lang wie heute Marvel-Verfilmungen. Die Kaskade der Attraktionen wird mit der Zeit monoton; dramatisch sind an den Filmen nur die Landschaftsaufnahmen. Am besten kommt dieser visuelle Prunk zur Geltung, wenn man ihn häppchenweise genießt. Komplett gesehen habe ich allerdings »Cinerama Adventure« von Strohmaier und Gitsch, der die Geschichte des Verfahrens ungemein fesselnd erzählt. Ich denke, die Blu-Ray oder DVD bekommt man als Export. Es ist wirklich ein Abenteuer, von dem sie da erzählen, eines, in dem Lawrence von Arabien, King Kong, die Weltausstellung von 1939, die Ausbildung von Bordschützen während des Zweiten Weltkriegs sowie ein tollkühner Pilot mit Höhenangst zentrale Rollen spielen. Allein wegen der Aufnahmen aus dem Krater eines afrikanischen Vulkans lohnen die Anschaffung. Die Erfolgsgeschichte des Cinerama dauerte kaum ein Jahrzehnt, was ökonomische, ästhetische und soziologische Gründe hatte.

Den großen Studios war es von Anfang an zu aufwändig, da es drei Projektoren braucht, die Synchron laufen müssen. Ich erinnere mich natürlich genau, wie mich die sichtbaren Nahtstellen bei der TV-Ausstrahlung von »Das war der Wilde Westen« gestört haben, auch dem digitalen Erfindungsreichtum von Strohmaier gelingt es nicht immer, sie zu kaschieren. Im Weiß der Schneelandschaft von St. Moritz sind sie im »Cinerama Holiday« deutlich zu sehen; sobald die Szenerie farbiger wird, fallen sie nicht mehr auf. Irgendwann hatte sich der Reiz der Travelogues erschöpft (Flugreisen wurden billiger). Auch die Idee, nach dem Vorbild der Polyvision am Ende von Abel Gance' »Napoleon« die Leinwand als Triptychon zu nutzen und verschiedene Motive parallel zu zeigen, griff nicht. Es zerstörte die Illusion des Unmittelbaren. Irgendwann wurde das Ganze schlicht zu teuer, die Transportkosten der Kopien waren dreimal so hoch wie bei anderen Filmen und die Kinos wollten sich die fünf Vorführer nicht mehr leisten, von denen einer als Springer zwischen den Kabinen hin und her eilte. Der Begriff Cinerama wurde später als Synonym für einige 70-mm-Filme gebraucht, deren Breite auf einem Filmstreifen Platz hatte und von denen »Grand Prix« und »2001 – Odyssee im Weltraum« die ästhetisch überzeugendsten sind.

Cinerama war kein Medium für Regisseure, sondern eines für furchtlose Kameraleute. Zwei Spielfilme kamen 1962 dennoch im originalen Format heraus, die MGM co-produzierte. Der erste, »Die Wunderwelt der Gebrüder Grimm«, wurde teilweise in Rothenburg ob der Tauber gedreht (wo man noch einen Stein in der Stadtmauer finden kann, den George Pal und MGM gespendet haben) und eben »Das war der Wilde Westen«, der auch im richtigen Format etwas absurd aussieht, weil es keine Großaufnahmen zulässt und die Schauspieler ziemlich verloren wirken. Das Format des Staunens eignetete sich nicht wirklich fürs Erzählkino. Bei Cinerama war das Verfahren selbst der Star.

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