Eine Begegnung

Ich habe ihm einmal eine Idee gestohlen. Das bereue ich nicht. Vielmehr bedaure ich, dass ich später keine weitere Gelegenheit dazu hatte. Es war 1998 während des Festivals von Turin, als ich Florian Flicker kennenlernte. Das war damals (und ist es vielleicht heute noch) eines jener Festivals – außer ihm fällt mir noch die Viennale ein -, das keine Barrieren zwischen Filmemachern und Kritikern errichtet, sondern sie einfach beim Essen nebeneinandersetzt, damit sie ins Gespräch kommen.

So fanden Florian Flicker und ich uns also bei einem festlichen Abendessen an einem Tisch wieder. Er zeigte auf dem Festival seine zweiten Spielfilm Suzie Washington; ich war Mitglied in der FIPRESCI-, der internationalen Kritiker-Jury. Natürlich kamen wir zuerst über seinen Film ins Gespräch, den ich sehr mochte. Birgit Doll hatte mich in der Titelrolle fasziniert und auch ein wenig verzaubert. Ich fand seinen Blick auf Migration und soziale Realitäten erstaunlich: Er besaß eine fast genrehafte Sicherheit und zugleich eine wache Fragilität. Seinen ersten Film Halbe Welt kannte ich nicht (was ihn nicht störte), hatte aber Gutes über ihn gehört. Unser Gespräch kreiste um die Schauspielerführung, er erzählte, was er von Birgit Doll erwartete und wie sie ihn überraschte mit immer neuen Nuancen des Ausdrucks. Da war für mich viel Grundsätzliches zu lernen. Unser Austausch war nicht vertraulich, es ging nicht um Persönliches. Dennoch gewann er eine gewisse Intimität, da wir uns ähnliche Fragen über das Kino stellten. Unsere anderen Tischpartner ließen uns nach einer Weile in Ruhe, sie respektierten höflich die Exklusivität des Gespräches.

Für den nächsten Tag verabredeten wir uns, um die Stadt zu erkunden. Aber vorher nahm er mich noch kurz zu einem anderen Tisch mit, an dem Michael Haneke saß. Der wurde in Turin mit einer Retrospektive gefeiert, obwohl er damals noch kein berühmter, durchgesetzter Filmemacher war. Seine Fernseharbeiten besaßen jedoch große Strahlkraft. Haneke bat uns, einen Moment zu bleiben. Und da bot sich mir die Gelegenheit zum Diebstahl. Florian Flicker fragte ihn, ob er nicht einmal einen Western drehen wolle: „Das würde ich gern sehen, einen Western von Haneke!“ Seinen älteren Kollegen amüsierte diese Idee. Ich habe sie später in einigen Kritiken aufgegriffen – und musste feststellen, dass Haneke mit seiner Verfilmung von Kafkas „Schloss“ das schon längst getan hatte.

Unseren Spaziergang durch Turin am nächsten Tag habe ich in klarer, lebhafter Erinnerung. Diese Erinnerung ist mir aus vielen Gründen teuer. Bis dahin hatte ich mit Filmemachern nur Zeit verbracht, die professionell legitimiert war: durch ein Interview oder die Dreharbeiten zu einer TV-Dokumentation. An diesem Morgen verbrachten aber einfach zwei Männer Zeit miteinander, weil sie Neugierde auf eine fremde Stadt teilten. Die Unbefangenheit des Vorabends setzte sich fort. Er war einige Jahre jünger als ich. Dass er bereits zwei Filme realisiert hatte, nahm ich als einen großen, nicht nur professionellen Erfahungsvorsprung. Als Kritiker darf man so etwas nicht vergessen. Florian Flicker war ein aufmerksamer Beobachter. Seine Schweigsamkeit hatte einen heiteren Zug. Es schien mir denkbar, dass er zu beträchtlicher Melancholie fähig sein könne. Aber es waren an diesem Morgen vor allem der Ernst und die Sorgfalt zu spüren, mit dem er die Umgebung aufnahm. Unser Spaziergang führte uns bis zu dem großen Markt, dessen Treiben uns faszinierte und auf dem wir Beide Schals kauften. Der strenge Geruch schwarzer Trüffel lag in der Luft. Hätte ich damals gewusst, dass Luigi Comencini hier einige Szenen für „Die Sonntagsfrau“ drehte, wäre unser Gespräch wohl zum Kino zurückgekehrt. Später tranken wir zusammen ein Glas Wein und staunten, wie riesig die Kapern waren, die man uns dazu servierte.

Zwei Jahre später trafen wir uns kurz auf der Viennale wieder. Dank des Erfolges von Der Überfall wurde er dort fast wie ein Star gefeiert. Das ließ er mit bewundernswerter Schüchternheit über sich ergehen. Es gab keine Anknüpfung an unsere Gespräche, aber einen wiederererkennenden Gruß. Am vergangenen Samstag ist Florian Flicker im Alter von nur 49 Jahren an Krebs gestorben. Die Nachricht von seinem Tod kam am Abend des Tages, an dem alle Welt um Richard Attenborough trauerte. Aber der Meldung der Österreichischen Filmakademie war bereits der Link zu dem so schönen wie kenntnisreichen Nachruf beigefügt, den Isabella Reicher auf ihn verfasste. Beim Schreiben dieses Blogs geriet ich nie in Versuchung, ihn bei seinem Vornamen zu nennen. Dazu kannte ich ihn nicht gut genug.

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