Ein Augenmensch

»Vom Winde verweht«

Für sie bemaß sich der Wert eines Films vor allem an seinem Thema. Der Gehalt war ihr wichtig. Bewegte Schicksale vor bewegtem historischem Hintergrund interessierten sie. Nicht von Ungefähr ist eine der lebhaftesten Kinoerinnerungen, die ich mit ihr verknüpfe, der gemeinsame Besuch einer Wiederaufführung von Vom Winde verweht.

Ich vermute, dass sich viele Frauen ihrer Generation, die den Krieg überlebt hatten, mit Scarlett O'Hara identifizierten. Sie zog ihr jedoch die stille Melanie vor, deren Mut und Opferbereitschaft sich nicht in den Vordergrund drängten. Scarlett war ihr zu kokett; insgeheim fand sie, dass Rhett Butler sie am Ende schon ganz richtig behandelte. Die Schlusseinstellung der unbeugsamen Vivien Leigh bewegte sie dennoch.

Das Schicksal eines zweiten Liebespaares in einer vergangenen Epoche verfolgte sie ebenfalls aufmerksam und beharrlich: Angélique und Joffrey. Die Romane hatten es ihr allerdings mehr angetan als die Verfilmungen mit Michèle Mercier und Robert Hossein. Ihr war es lieber, wenn es im Kino etwas züchtiger zuging. Die planvolle Weise aber, in der Anne Golon die Geschichte über etliche Bände anlegte und dabei ein prächtiges historisches Panorama spannte, faszinierte sie. Überhaupt war ihr Interesse am Kino eng mit der Literatur verbunden. Eine Romanvorlage schien ihr der sicherste Garant, dass ein Film bedeutend sein könnte. Ich erinnere mich, dass sie mit mir in den 70ern in eine Hans-Fallada-Verfilmung gehen wollte, deren Titel zu nennen, mir in diesen Tagen nicht leicht fällt. Das Vorhaben scheiterte daran, dass ich Hildegard Knef nicht mochte, insgesamt ein Snob gegenüber dem deutschen Kino war und die Meriten Alfred Vohrers erst viele Jahrzehnte später entdeckte. Sie wollte ihn vor allem sehen, weil sie Carl Raddatz sehr mochte. Ihre Generation blieb den Kinoidolen der Kindheit treu; das restaurative deutsche Nachkriegskino machte das leicht. Wie auch immer man zu dieser Kontinuität stehen mag – es rührt mich im Nachhinein ungemein, dass sie wegen Carl Raddatz noch einmal ins Kino gehen wollte.

Das Kinoprogramm bot ihr allerdings auch nicht mehr viel. Es ist bezeichnend, dass "Film und Frau", die Illustrierte, die sie nach dem Krieg abonniert hatte, sich in die Zeitschrift "Für sie" verwandelte, in deren Vordergrund nun Kochrezepte, Mode und Ratgeberseiten standen. Sie wurde, auch darin eine Repräsentantin ihrer Generation, zur Fernseherin. Sie war keine genügsame, vielmehr eine oft enttäuschte Zuschauerin. Kitsch missbilligte sie, und ihre protestantische Strenge ließ sie nur begrenzte Freude an Komödien finden. "Herrlicher Quatsch" bilanzierte sie dann oft, wenn die Abspanntitel liefen. Der letzte Film, den sie auf einer großen Leinwand sah, war Luther mit Joseph Fiennes. Das kostete sie bereits beträchtliche Mühe, aber der Reformator hatte in ihrem Leben schließlich eine wichtige Rolle gespielt. Sie blieb nicht ganz bis zum Ende.

Die Verbindung zwischen Büchern und Filmen gewann in den 70er Jahren noch einen neuen Aspekt hinzu. Sie las gern in den Lebenserinnerungen berühmter Schauspielerinnen, etwa Ingrid Bergmann und Lilli Palmer. Mit "Ich" von Katherine Hepburn hingegen konnte sie wenig anfangen. Bereits der Titel schreckte sie ab, denn Unbescheidenheit schätzte sie nicht. Von Lilli Palmer jedoch besaß sie drei Bücher. Besonders beeindruckte sie die Schilderung ihrer Begegnung mit Helen Keller. Daran musste ich in den letzten Tagen häufiger denken, weil ich über Die Sprache des Herzens schrieb, in dem es ebenfalls um ein taubblindes Mädchen geht. Ich vermute, diese Stelle bewegte sie auch deshalb, weil sie selbst von Geburt an auf dem rechten Auge blind war. Allerdings stellte das keine wesentliche Einschränkung für ihr Leben dar. Ich habe es überhaupt erst spät erfahren.

Waren ihr Worte wichtiger als Bilder? Wenn es in der Zeitung zu viele Abbildungen gab, fühlte sie sich ein wenig betrogen. Ein Augenmensch war sie trotzdem. Fotos hatten eine große Bedeutung für sie. Auf ihnen waren Lebenssituationen festgehalten, sie weckten Erinnerungen an Familienfeiern oder an Menschen, die nicht mehr da waren. In den letzten Jahren, als die Schübe ihrer Demenz häufiger auftraten, wurde die Vergangenheit für sie immer gegenwärtiger. Augenmensch blieb sie bis zum Schluss. Auf ihrem Krankenbett lag sie mit offenen Augen, auch zum Schlafen schloss sie sie nicht oft. Ob sie noch etwas sahen und wenn ja, was, konnten wir nicht mehr sagen. Ich hoffe, es waren schöne Bilder, die vor ihr auftauchten. Dann, gestern morgen, konnte sie ihre Augen schließen. Lieselotte Midding wurde mit fast 91 Jahre älter, als es jedes ihrer acht Geschwister wurde. Und älter, als sie es selbst je erhofft hatte.

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