Disney+: »Pistol«

Stinkefinger fürs Establishment

Musikbiografien ohne Ende, jetzt auch noch in Serienform. Während in Cannes das »Elvis«-Biopic von Baz Luhrmann Premiere feiert, gibt Danny ­Boyle mit »Pistol« seinen Streaming-Einstand und widmet sich dabei, der Titel lässt es erahnen, den Sex Pistols. Der Sechsteiler, dem als Grundlage die »Lonely Boy« betitelten Erinnerungen von Pistols-Gitarrist Steve Jones dienten, erzählt chronologisch und ausführlich die Geschichte der legendären Band nach und widmet sich den holprigen Anfängen in London Mitte der siebziger Jahre genauso wie dem explosiven Durchbruch samt abruptem Ende. 

Die kurze, wilde Geschichte der Gruppe hat ohne Frage das Potenzial für eine kurzweilige Erzählung. Die Entstehung der Band als Idee von Malcolm McLaren (Thomas Brodie-Sangster), der den aus schwierigen Verhältnissen stammenden Kleinkriminellen Jones (Toby Wallace) entdeckt und um ihn herum die Pistols mit dem eigentlich untalentierten Johnny Rotten (Anson Boon) als Sänger quasi als Band gewordenen Stinkefinger gegen das Rock-Establishment aufbaut, ist schließlich genauso spannend wie die gesellschaftspolitischen Auswirkungen, die das Aufkommen von Punk nach sich zog. 

»Die Band und vor allem das, wofür sie stand, bedeuteten mir als jungem Mann alles«, sagte Boyle kürzlich im Interview gegenüber epd Film. »Ihre Musik und ihre Attitüde waren im Großbritannien von damals, das kaum mehr als ein langweiliges Gefängnis zu sein schien, wie ein Befreiungsschlag.« Diese Nähe zum Sujet und die Kenntnis der Zeit ist seiner Serie nun durchaus anzumerken. Das Gelingen garantieren sie allerdings nicht.

Zwischen in bester Boyle-Manier rastlos eingestreuten Archivaufnahmen und leider überdeutlich-plumpen Dialogen in den Drehbüchern von Craig Pearce (der übrigens auch an Luhrmanns »Elvis«-Skript mitschrieb) kann sich »Pistol« nie so ganz entscheiden, in welche Richtung es gehen soll. Für den Versuch einer historischen Sozial- und Milieustudie wohnt dem Text und den Bildern eine zu große Künstlichkeit inne, doch die überzeichneten Ansätze einer Showbiz-Komödie werden auch nicht ausreichend verfolgt. Und ganz herkömmliche Biopic-Konventionen sind natürlich auch nie fern, weswegen Rotten die Serie in der britischen Presse bereits als »Mittelklasse-Fantasie« abtat und juristisch versuchte, die Verwendung der Originalsongs zu verhindern.

Dass ihm letzteres nicht gelang, ist für »Pistol« dann doch ein Segen. Denn wann immer sich die Serie auf die musikalischen Aspekte ihrer Geschichte konzentriert, ist sie am stärksten – und kann sich dabei auch auf das engagiert aufspielende junge Ensemble verlassen. Ansonsten freut man sich hier eher über Kleinigkeiten, etwa wenn prominente Wegbegleiter*innen wie Vivienne Westwood, Chrissie Hynde und Billy Idol auftauchen. Oder man erfährt, dass Sid Vicious (verkörpert von Louis Partridge) seinen Künstlernamen einem bissigen Hamster zu verdanken hat.

OV-Trailer

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt