Interaktiver Film – Was soll er tun?

Fionn Whitehead als Computerspieldesigner in »Bandersnatch«

Fionn Whitehead als Computerspieldesigner in »Black Mirror: Bandersnatch« (2018). © Netflix

Vom »interaktiven Film« träumt die Unterhaltungsbranche seit 30 Jahren. Hat nie richtig geklappt. Aber jetzt scheint es einen Durchbruch zu geben

Ende 2018 sorgte eine auf Netflix veröffentlichte Sonderfolge der britischen Kultdystopie »Black Mirror« für Diskussionen. War mit »Bandersnatch« das Fernsehen von morgen eingetroffen, wie eine britische Tageszeitung verkündete? Im Mittelpunkt der Episode zum Mitmachen steht der junge Gamedesigner Stefan. Anfang der 80er soll er in kürzester Zeit ein Computerspiel für ein angesagtes Studio entwickeln. Wie er mit dem Stress umgeht, können die Zuschauer per Knopfdruck entscheiden.

Alle paar Minuten lässt sich per Fernsteuerung oder Tastatur eine von zwei im Bild angezeigten Optionen auswählen – 30 Sekunden stehen dafür zur Verfügung. Welche Sorte Frühstücksflocken soll Stefan essen, welche Musik auf dem Weg zur Arbeit hören? So weit, so harmlos. Es fällt indes immer schwerer, für den entnervten Programmierer intuitiv Entscheidungen zu treffen. Soll er psychiatrische Hilfe in Anspruch nehmen? Oder sich doch lieber mit einem Kollegen treffen, der von mysteriösen kosmischen Zusammenhängen und Parallelwelten berichtet? Stefans Vorhaben, ein mysteriöses Spielbuch, dessen Verfasser ein tragisches Schicksal ereilt hat, als Videospiel zu adaptieren, verheißt nichts Gutes.

Die gewählten Optionen führen zu unterschiedlichen Handlungsverläufen – »Bandersnatch« verfügt über mindestens fünf verschiedene Enden. Gelangt man durch eine schlechte Entscheidung zu einem vorzeitigen Abschluss der Folge, kann man zurückspulen und an der letzten Verzweigung eine andere Variante wählen.

Die Struktur von »Bandersnatch« basiert auf der in England und den USA seit den 70er Jahren beliebten »Choose Your Own Adventure«-Taschenbuchreihe. In diesen Abenteuerspielbüchern muss der Leser je nach der ausgewählten Aktion auf unterschiedlichen Seiten weiterlesen. Die Firma Chooseco, Produzent der bis heute Kultstatus genießenden Spielbücher, war von der indirekten Hommage durch »Black Mirror« nicht angetan. Wegen Verletzung des Urheberrechts reichte sie Klage ein. Außerdem vertrage sich ihr Selbstverständnis als familienfreundliche Unterhaltungsmarke nicht mit der düster-pessimistischen Weltsicht der »Black Mirror«-Folge.

Jenseits des konkreten Konflikts stellt sich eine prinzipielle Frage: Lassen sich die Versprechen des interaktiven Films, die in den letzten dreißig Jahren meistens zu Enttäuschungen führten, durch Streamingportale wie Netflix doch noch einlösen?

Der interaktive Film ist ein Kind des Digitalzeitalters – inspiriert von der aufblühenden Gamingkultur, die in den 80ern in Konkurrenz zum Kino trat. Lange standen der lineare Ablauf eines Films und die in der Regel nonlineare Interaktivität der Videospiele einander zu sehr im Weg, um einen »interaktiven Film« hervorzubringen. Ambitionierte Versuche, die Medien zu kombinieren, gab es durchaus. 1967 präsentierte der tschechische Regisseur Radúz Činčera auf der Weltausstellung in Montreal den gemeinsam mit Jaroslav Frič und Pavel Juráček konzipierten Kinoautomaten »Man and His House«. Das Publikum konnte an bestimmten Stellen per Knopfdruck entscheiden, wie sich der überforderte Protagonist während eines in einem Hochhaus ausgebrochenen Feuers verhalten sollte. Die entsprechenden Szenen wurden mit Hilfe mehrerer Projektionen eingespielt

1983 entstand unter Beteiligung des Animationsfilmregisseurs Don Bluth der Videospielautomat »Dragon's Lair«. Die knapp zwanzig Minuten umfassenden Zeichentricksequenzen, in denen sich ein schussliger Ritter durch ein von Monstern bewachtes Schloss kämpft, wurden per Laserdisc eingespielt. Konnten die Spieler rechtzeitig den Joystick in die auf dem Bildschirm angezeigte Richtung bewegen, spielte der Automat die nächste Szene ab. Reagierten die Spieler zu spät, stürzte der Ritter in den Tod, und sie mussten eine Münze nachwerfen. »Dragon's Lair« verdeutlicht ein wesentliches Problem des interaktiven Films: Der Neuigkeitswert der Zeichentrickpassagen machte den Automaten für eine Saison zum Erfolg – doch angesichts der schlichten Spielmechanik, die bloß aus Reaktionstests bestand, stellte sich bald Ernüchterung ein.

Der Konflikt zwischen einem ästhetisch ansprechenden Filmerlebnis und einem flüssigen Spielablauf bildet bis heute eines der großen Probleme des interaktiven Films. Ende der 80er Jahre startete die Spielzeugfirma Hasbro, Produzent erfolgreicher Spielzeugmarken wie »Transformers«, den Versuch, einen interaktiven Film für zu Hause herzustellen – mit Hilfe von Videobändern. Doch erst mit Einführung der CD-Rom als digitales Speichermedium für Personal Computer konnten 1992 die Spiele »Sewer Shark« und »Night Trap« fertiggestellt werden. Die erhöhte Speicherkapazität der Datenträger ermöglichte die Integration von sogenannten Full-Motion-Video-Sequenzen (FMVs), in denen reale Schauspieler in kurzen Filmszenen agierten. In »Night Trap« mussten die Spieler ahnungslose Teenager in einem entlegenen Haus vor Vampiren schützen. Mit Hilfe von acht separat ansteuerbaren Videokameras ließen sich die parallel ablaufenden Filmsequenzen verfolgen; im entscheidenden Moment mussten Vampirfallen ausgelöst werden. Ein begrenzt interaktives Erlebnis.

Gamer hatten sich inzwischen an offene Spielwelten gewöhnt, in denen man sich frei bewegen kann. Für sie mussten die Abläufe einer vorgegebenen Filmdramaturgie einer Schienenbahn mit alternativen Gleisen gleichen. An diesem Reibungsverhältnis scheiterten zahlreiche CD-Rom-Spiele, die in den 90er Jahren versuchten, aufwendige Filmpassagen und interaktives Spielerlebnis zusammenzubringen. Die meisten Gamedesigner wandten sich um die Jahrtausendwende von der Idee des interaktiven Films ab. Erfolgreiche offene Spielwelten wie das Westernszenario der »Red Dead ­Redemption«-Spiele (seit 2010) oder die detailverliebten Metropolen der Gangstersatire »Grand Theft Auto« (seit 1997) verfügen zwar über eine ausgesprochen filmische Atmosphäre. Ob sich das Ganze zum hektischen Spektakel oder zur elegischen Odyssee entwickelt, hängt jedoch vom Temperament und ästhetischen Empfinden des Spielers ab.

Gegenwärtig scheint die Idee des interaktiven Films wieder im Aufwind zu sein. Der französische Spielentwickler David Cage etwa bemüht sich in der Film-noir-Variation »Heavy Rain« (2010), dem Teenager-Angst-Drama »Beyond: Two Souls« (2013) und der Cyborg-Parabel »Detroit – Become Human« (2018) um eine aktualisierte Variante des interaktiven Films. Die Hauptdarsteller, darunter Hollywoodstars wie Willem Dafoe und Ellen Page, werden hier für fotorealistische Animationen gescannt. In Cages Spielen geht es gerade nicht um so etwas wie künstlerische Kontrolle, sondern um die Intensivierung der Erfahrung klassischer Genreerzählungen. Die Nervosität der Ermittler auf der Jagd nach einem Serienmörder, die Unsicherheit einer telekinetisch begabten jungen Frau und die Emanzipation sensibler Androiden werden in den aufwendig inszenierten Games unter Zeitdruck ausgespielt. Dabei können die vom Spieler per Tastenkombination gesteuerten Aktionen der Figuren stark variieren. Wird der Protagonist beispielsweise nervös, kann es passieren, dass die Optionen auf dem Bildschirm wie wild zu rotieren beginnen. Die Aufgeregtheit der Figur überträgt sich so auf den Spieler.

Die entscheidende Neuerung gegenüber den CD-Rom-Spielen der frühen 90er Jahre besteht nicht nur in einer größeren Sorgfalt in der ästhetischen Umsetzung. Ein überlegterer Umgang mit erzählerischen Rhythmen schafft neue Möglichkeiten im Grenzbereich zwischen Film, Game und animiertem Comic. Das in Episoden erzählte High-School-Drama »Life Is Strange« (2015), so beliebt, dass es sich zum Franchise geweitet hat, lässt die Spieler in das Innenleben der Protagonistin eintauchen: Man kann Zusatzinformationen über die Figuren und die Geschichte einblenden, Räume erkunden und mit der Heldin die Zeit zurückdrehen. Umfang und Dauer der meditativen Coming-of-Age-Erzählung können sich, je nach der Bereitschaft, sich auf die melancholische Atmosphäre einzulassen, unterscheiden.

In den Spielen des Studios Telltale zu Serien wie »The Walking Dead« (2012) und »Game of Thrones« (2014) wiederum besteht der Reiz darin, unter Zeitdruck zielführende Entscheidungen zu treffen. Welchem Überlebenden der Zombieapokalypse gebe ich meine letzte Ration, und wen bringe ich als Erstes in Sicherheit, wenn wieder einmal das Versteck überrannt wird?

Auf Dauer waren die Telltale-Produktionen jedoch zu vorhersehbar. Ende letzten Jahres ging die Firma pleite, kurz vor einem Produktions­deal mit Netflix. Für das Comeback des interaktiven Films lieferte ihre Spielmechanik dennoch die entscheidende Stilvorlage – »Bander­snatch« funktioniert nach dem gleichen Entscheidungsprinzip. Im Unterschied zu den mechanisch wirkenden »Walking Dead«-Spielen werden in »Bandersnatch« jedoch Form und Inhalt effektvoll in Einklang gebracht: Die Paranoia des Protagonisten spiegelt sich in der auf Kontrollverlust basierenden ­Spielerfahrung der Zuschauer. Entsprechend der kulturpessimistischen Philosophie der Serie führt das verstörende Ergebnis zu keinem Happy End und keinem Highscore, sondern nur zu weiteren offenen Fragen.

»Bandersnatch« verdeutlicht, dass die Frage nach der Relevanz des interaktiven Films eng mit den Spielregeln medienübergreifender Genrekonzepte und deren Kommunikationsprozessen gekoppelt ist. Irgendwann bemerkt der verzweifelte Gamedesigner, dass er von einer unbekannten Macht kontrolliert wird. Ob sich der Zuschauer als der gesuchte Puppenspieler zu erkennen gibt oder ob er den Protagonisten im Wahn versinken lässt, wird ebenfalls per Tastendruck entschieden. Die Folge wirkt eher wie die Videospielvariante eines Michael-Haneke-Films, als dass sie einen Raum fürs virtuelle Flanieren eröffnete.

Aber vielleicht besteht genau in der bewussten Reflexion der eigenen Begrenzungen eine Chance für den interaktiven Film. Er könnte endlich der Geisterbahnfahrt durchs Formeldickicht entkommen und auf der Streamingplattform modernisierte Formen erproben. Netflix scheint hier auch Chancen zu sehen, die an Games wie »Fortnite« gebundenen jungen Zuschauer einzufangen. Mit »Bandersnatch« beginnt zwar nicht das Fernsehen der Zukunft; die Folge bietet aber ein paar elegante neue Antworten auf alte Fragen.                      

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