Ausstellung: Claude Lanzmanns »Shoah«

Geschichte hörbar machen. Eine Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin präsentiert erstmals Claude Lanzmanns Vorarbeiten zu seinem Film »Shoah«

»Sind Sie besessen?« fragt eine Zeitzeugin den französischen Filmemacher Claude Lanzmann während seiner Vorarbeiten zu seinem Film »Shoah« – »Manchmal nicht besessen genug«, erwidert Lanzmann. »Wahnsinnig intensiv« sei die Arbeit mit ihm jedenfalls gewesen, sagte in der Pressekonferenz Irena Steinfeldt-Levy, die zusammen mit der ebenfalls anwesenden Corinna Coulmas die engste Mitarbeiterin des Filmemachers war. Beide waren weit mehr als nur Übersetzerinnen (Lanzmann sprach kein Hebräisch), recherchierten und führten selbständig Interviews.

Lanzmanns »Shoah« hat (Film-)Geschichte geschrieben, weil er in seiner neunstündigen Recherche zur Vernichtung der Juden gänzlich auf historisches Archivmaterial verzichtete und stattdessen die Überlebenden zu Wort kommen ließ, die Opfer und auch einige Täter.

Die Vorarbeiten zu diesem Film umfassten neben den Recherchen vor allem Gespräche mit Zeitzeugen, geführt zwischen 1974 und 1978. Ende 1978 begannen die Dreharbeiten, am 30.4.1985 hatte der Film seine Weltpremiere in Paris, die deutsche Erstaufführung fand im Rahmen des Internationalen Forums des jungen Films bei der Berlinale im Februar 1986 statt.

Festgehalten sind diese Gespräche auf 126 Audiocassetten mit zusammen 220 Stunden Aufzeichnungen in acht Sprachen. Sie bilden das Ausgangsmaterial für die Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin, die am 27. November eröffnet wurde, dem Tag, an dem der 2018 verstorbene Filmemacher seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte.

Aufbewahrt hatte sie Lanzmann »in einem Karton und in einer Schuhschachtel im Keller«, wie seine Witwe Dominique Lanzmann-Petithory verriet. Seit 2021 sind sie im Besitz des JMB, seit 2023 sind der Film und die Sammlung Teil des UNESCO-Welterbes. Zu Berlin hatte Lanzmann eine besondere Beziehung, hatte er hier doch 1948/49 an der Freien Universität als Lektor gearbeitet.

Aus den 220 Stunden gibt es in der Ausstellung (die parallel in New York und ab 10. Dezember auch in Paris zu sehen ist) 90 Minuten zu hören, gruppiert zu sechs Stationen mit insgesamt elf Monitoren, auf denen deutsche und englische Übersetzungen der Gespräche zu lesen sind, die die Besucher über Kopfhörer als O-Ton hören können.

Hier kann man aus Fragen an Lanzmann auch etwas über die Ursprünge des Projektes erfahren: Es entstand aufgrund einer Anfrage des israelischen Außenministeriums, das sich gemeinsam mit der Gedenkstätte Yad Vashem nach Ansicht des ersten Films von Lanzmann, »Pourquoi Israel« (1973), an den Filmemacher gewandt hatte.

Spannend sind die immer wieder thematisierten Differenzen zwischen diesem Arbeitsmaterial und dem fertigen Film, etwa Gespräche mit Zeitzeugen, die sich nicht filmen lassen wollten und deshalb im Film nicht vorkommen. Wie stark Lanzmann das traf, wird deutlich aus einem Brief an eine Überlebende des Lagers Sobibor, der in einer der Vitrinen zu sehen ist. Hartnäckig, wie auch oft in seinen Interviews, spricht Lanzmann von ihrer »Pflicht«, Zeugnis abzulegen.

Auch die Vernichtung der Juden in Litauen, in einer anderen Hörstation thematisiert, fehlt im Film fast ganz, ebenso eine Zeitzeugenaussage, die Vorwürfe an die amerikanische Regierung richtet, die trotz des frühzeitigen Wissens um den Holocaust nichts unternommen hätte. Auch die Rolle der katholischen Kirche, die Schweizer Flüchtlingspolitik und der jüdische Widerstand gehören zu den Leerstellen des Films. Wobei man auch sagen muss, dass Lanzmann für Drehs in der damaligen Sowjetunion kein Visum bekam. Notizen Lanzmanns in den fünf Vitrinen belegen sein breites thematisches Interesse, das sich erst durch die Gespräche konzentrierte und zuspitzte auf die Vernichtung der Juden, den Holocaust. Vieles hing dabei mit Zufällen zusammen, wie seine beiden Mitarbeiterinnen in einem Videointerview über ihre Arbeit berichten (das höchst informative 40minütige Werk kann auch online gesehen werden).

»Es gibt wenig zu sehen, aber dafür umso mehr zu hören«, hatte Hetty Berg, die Direktorin des Jüdischen Museums, in der Pressekonferenz gesagt. In dieser Hinsicht leistet die Ausstellung Einiges. Dass von den Cassetten noch alle abspielbar waren und nur eine verrauscht war, ist schon ein kleines Wunder, ebenso, dass trotz nur rudimentärer Beschriftung alle Gesprächspartner identifiziert werden konnten. Inzwischen sind sie alle digitalisiert, werden nach und nach verschriftlicht und sollen bis Ende 2027 komplett online zu wissenschaftlichen Zwecken verfügbar sein. In der Ausstellung kann man an drei Tablets schon jetzt Auszüge hören.

Wie notwendig Lanzmanns Vermächtnis ist, belegten Zahlen, die Hetty Berg in der Pressekonferenz nannte. Demzufolge konnten 80% der Besucher des Hauses mit dem Namen Claude Lanzmann nichts anfangen und 70% nichts mit dem Filmtitel »Shoah«.

Claude Lanzmann. Die Aufzeichnungen. Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin, bis 12. April 2026 (Freier Eintritt).

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