DOK.fest München: Raus hier, ins Freie

»Where Man Returns« (2019)

»Where Man Returns« (2019)

Mit einem Rekord von 52 000 Besuchern ist das DOK.fest München jetzt das größte deutsche Dokumentarfilmfestival. Ein großes Thema in diesem Jahr war das Verhältnis von Mensch und Natur

Dokumentarfilme haben Konjunktur, zumindest auf Festivals. Während sie bei regulären Kinostarts oft nur wenig Publikum finden, scheint ihre Präsentation mit Gästen und Gelegenheit zur Diskussion immer beliebter zu werden. Das DOK.fest München erfährt dies etwa mit seiner Reihe »Ganz großes Kino«, die ausgewählte Premieren im 1 000 Besucher fassenden, repräsentativen Saal des Deutschen Theaters zeigt. Daniel Sponsel, seit 2009 Festivalleiter, und sein Team scheinen überhaupt den Nerv des Münchner Publikums zu treffen. Die Branchenplattform DOK.forum und das Schulprogramm DOK.education finden ebenfalls immer größere Resonanz.

Mit dem Schwerpunkt »humaNature« lag das Festival zudem thematisch im Trend. Aus verschiedensten Perspektiven nahmen die Filme unser widersprüchliches Verhältnis zur Natur in den Blick, auch über die Themenreihe im DOK.focus »humaNature« hinaus. Der Eröffnungsfilm »Der Wal und der Rabe« von Mirjam Leuze etwa porträtiert in stillen, melancholischen Bildern zwei Walforscher an der Westküste Kanadas, die mit den letzten indigenen Einwohnern für den Erhalt eines einzigartigen Walrefugiums kämpfen – bedroht durch eine Tankerlinie. Nicht nur bedrohte, sondern bedrohliche, zerstörerische Natur zeigt Viktor Kossakovskys »Aquarela« als rein visueller Essay über Wasser in verschiedensten Formen, vom Grönlandeis über Wellenberge im Atlantik bis hin zu Hurrikans – eingefangen in spektakulären Aufnahmen mit einer Frame Rate von 96 Bildern pro Sekunde. Ein Naturfilm als berauschende sinnliche Erfahrung.

Während das Festival auch aktivistische Werke wie »Die rote Linie – Widerstand im Hambacher Forst« zeigte, waren die beeindruckendsten doch jene Filme, die sich der Eindeutigkeit entziehen. Etwa das in einem an frühe Fotografien erinnernden Schwarzweiß gehaltene, fast wortlose Porträt eines Einsiedlers in der Weite Nordnorwegens in »Where Man Returns«: die Tage geprägt von der Jagd, der einzige Begleiter ein Hund, der einzige Luxus ein Radio. Ist das der perfekte Einklang mit der Natur? Über die Innenwelt des alten Mannes erfahren wir nichts. In der rauen Poesie dieses famosen kleinen Films zählt nur das Hier und Jetzt.

Den deutschen Wettbewerb gewann ein Film, der ebenfalls unser Verhältnis zur Natur miterzählt, wenn auch nur als Nebenaspekt: Nikolaus Geyrhalters »Die bauliche Massnahme« handelt von den Alpen, vom Brenner und von willkürlich durch die Landschaft gezogenen Staatsgrenzen. 2016, nach Schließung der »Balkanroute«, beißen sich Österreichs Politiker an der Idee fest, die Grenze mit einem Zaun zu sichern. Geyrhalter interviewt die Bewohner der Gegend und stößt auf teils überraschende Ansichten zu Grenzen und Migration, während das Zaun-Vorhaben sich als populistische Absurdität selbst entlarvt: Bis heute warten die Bauteile für ganze 370 Meter Zaun in Containern auf ihren Einsatz. Ein weiteres Highlight der deutschen Reihe und ausgezeichnet mit dem Publikumspreis: »Another Reality«, das Porträt mehrerer Angehöriger »krimineller Clans«, ohne Kommentar, auf Augenhöhe und erstaunlich witzig und sympathisch. Das könnte für Kontroversen sorgen.

Gesprächsstoff bietet auch »Verteidiger des Glaubens«, Christoph Röhls Porträt von Joseph Ratzinger beziehungsweise Papst Benedikt XVI. Er vollzieht den Werdegang des Kirchenmanns vom einstigen Reformer zum weltabgewandten Verteidiger der reinen Lehre nach und macht die verheerende Resistenz eines ganzen Systems gegen Selbstkritik sichtbar. Das Vertuschen von tausendfachem sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche zeigt sich nicht zuletzt als Ergebnis ihrer Ideologie.

Der Hauptpreis im internationalen Wettbewerb ging an »Der nackte König – 18 Fragmente über Revolution« von Andreas Hoessli, der den Regimewechsel im Iran 1979 und die polnische Gewerkschaftsbewegung 1980 zu einer vielschichtigen Reflexion auf revolutionäre Bestrebungen und ihre Dynamik verzahnt.

Auch als »menschliche Natur« gelesen war das Thema »humaNature« ergiebig. Schlaglichter auf die Conditio humana warf etwa Sobo Swobodniks sehr persönlicher, experimentierender »Bastard in Mind«, der entstand, als der Filmemacher beinahe an einem Gehirn-Aneurysma gestorben wäre, und ein schönes Beispiel dafür ist, wie inspirierend radikal subjektive Filme sein können.

Eine klare künstlerische Haltung, relevante Themen und der Mut zur eigenen Perspektive – diese Eigenschaften prägten erfreulich viele Filme dieses DOK.fest-Jahrgangs. Auch die Werke Heddy Honigmanns, die man in der DOK.fest-Retro entdecken konnte. Mit Filmen wie »Forever« über den Friedhof Père Lachaise in Paris oder »Crazy« über Musik als Überlebenshilfe im Krieg beweist die Amsterdamerin immer wieder, dass Filmemacher im eigenen Werk höchst präsent sein und doch in ihrem Thema aufgehen können.

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