09/2023

»Jetzt reicht's mal wieder« – Wann fing das an, dass die Autoren und Schauspieler der »Traumfabrik« sich nicht nur als geniale Kreative, sondern als abhängig Arbeitende begriffen? Zur Geschichte der Streiks und zum Wandel der Machtstrukturen in Hollywood +++ 

»Land of the Lost« – Anders als seine Helden war Aki Kaurismäki der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Mit ihm ist in den 8oern das Independent-Kino aufgeblüht. Eine Würdigung +++ 

»In England wäre sie geadelt« – »Dame« Barbara Sukowa – nicht schlecht. Die Schauspielerin gehört zu den wenigen internationalen Stars des deutschen Kinos. Zum Start von Dalíland: das große Interview +++ 

Filme des Monats: Auf der Adamant | Sophia, der Tod & ich | Die toten Vögel sind oben | Dalíland | Fallende Blätter | Vergiss Meyn nicht | Sieben Winter in Teheran | Alaska +++

In diesem Heft

Tipp

Stachelexotik: Die Verfilmung von Holly Ringlands Romanbesteller »The Lost Flowers of Alice Hart« erweist sich als bildschön angerichtete Frauensaga.
Die patriarchale Struktur der Filmindustrie ist keine Überraschung. Wie die geschlechtsspezifische Bildgestaltung Sexismus fördert, schon. Nina Menkes' filmischer Vortrag »Brainwashed – Sexismus im Kino« jetzt auf arte.
Graham Roland kreuzt im US-Sechsteiler »Dark Winds« Western- und Krimimotive und verquickt ein spektakuläres Verbrechen mit indigener Folklore.
Tom Lass und sein Team zeigen in Tod den Lebenden viel kreative Freiheit, Spielfreude und Widerstand gegen normierte Erzählmuster.
Tilda Swinton spielt in Joanna Hoggs »The Eternal Daughter« gleichzeitig Mutter und Tochter – und eine Regisseurin, die einen Film über die eigene Mutter machen möchte.
Für Birgitte Nyborg beginnt in »Borgen – Macht und Ruhm« eine neue Legislaturperiode. Sie ist nun Außenministerin in einer Koalitionsregierung, in der sich die Partnerparteien nicht unbedingt lieben.
Auf Basis der Bestsellervorlage von Julia Franck ist der österreichischen Autorenfilmerin Barbara Albert eine eindrucksvolle Verbindung aus Frauenporträt und Zeitbild gelungen.
Revolverheld auf Asphalt: In »Justified: City Primeval« ist U.S. Marshall Raylan Givens älter, grauer und ein Stück empfindsamer geworden.
Kann man sich gegenseitig analysieren? Mit »Everyone is f*cking crazy« gelingt Luzie Loose und John-Hendrik Karsten eine originelle Serie über psychische Störungen unter Jugendlichen.
Düstere Prognose: Die belgische Serienerzählung »Arcadia« braucht keine aufwendigen digitalen Effekte, um als Zukunftsvision zu überzeugen.
Fremdschämkomödie, Kunstweltsatire und durchgeknallte Detektivgeschichte: Der chilenische Regisseur Sebastián Silva (»La Nana – Die Perle«) meldet sich nach fünf Jahren mit »Rotting in the Sun« zurück.
Am 03.09. spricht Ed Herzog im Kino des Deutschen Filminstituts & Filmmuseums mit Rudolf Worschech über seinen Film »Rehragout Rendezvous«.
Melancholischer Mobster: Brian De Palmas Gangsterdrama »Carlito's Way« in restaurierter Form.
Schreiben kann tödlich sein: »Malta sehen und sterben« mit Michael Caine als Ghostwriter, der einen heiklen Auftrag erhält.
Flirrende Sommerliebe: Der britische Film »My Summer of Love« von 2004 neu im Mediabook.
»Die Königin der 1000 Jahre«, ein Klassiker der Anime-Serien aus den 1980ern, erscheint frisch restauriert und aufgeteilt auf zwei Blu-rays.
2021 war »Limbo« auf der Berlinale zu sehen, lief aber nie im Kino an. Jetzt ist der düstere Neo-Noir über die Jagd auf einen Serienmörder auf DVD und Blu-ray erschienen.
Wie das Leben so spielt: die BBC-Miniserie »Life«.
Sympathie mit dem Sabbermonster: Was geschah im »Tunnel der lebenden Leichen«?
Zweckfamilie im Zombieland: Die Videospielverfilmung »The Last of Us«.

Thema

In England wäre sie geadelt. »Dame« Barbara Sukowa – nicht schlecht. Die Schauspielerin gehört zu den wenigen internationalen Stars des deutschen Kinos. Zum Start von »Dalíland«: das große Interview.
Anders als seine Helden war Aki Kaurismäki der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Mit ihm ist in den 8oern das Independent-Kino aufgeblüht. Eine Würdigung.
Jamie Dornan begann seine Karriere zwar als Model, verschafft sich aber zunehmend mit der Darstellung von ambivalenten Figuren den Ruf eines Charakterdarstellers
Wann fing das an, dass die Autoren und Schauspieler der »Traumfabrik« sich nicht nur als geniale Kreative, sondern als abhängig Arbeitende begriffen? Zur Geschichte der Streiks und zum Wandel der Machtstrukturen in Hollywood.

Meldung

»Als Regisseur schaffe ich Freiräume für kleine Wunder« – Ira Sachs im Gespräch über seinen neuen Film »Passages«.
Marc Hosemann 52, Schauspieler, wechselt munter zwischen Bühne (etwa bei Frank Castorf), Film (fast alle Fatih Akins, »Reine Formsache«, »Schwarze Schafe«, »Magical Mystery«) und Fernsehen (»Die Discounter«). Jetzt spielt er in Charly Hübners »Sophia, der Tod & ich« den »Tod«. 
Beim 76. Filmfestival Locarno zeigten europäische Autorenfilmer Haltung. Und es gab Anerkennung für die deutschen Produktionen.
Das »Kleine Fernsehspiel« des ZDF fördert seit 60 Jahren den filmischen Nachwuchs. Heute verfügt es über einen »Back-Katalog«, der sich liest wie ein Who's who des deutschen Films: von Atef bis Praunheim, von Fassbinder bis Qurbani.

Filmkritik

Fünf Jahre nach dem tödlichen Absturz eines jungen Filmemachers im Hambacher Forst machen drei ehemalige KommilitonInnen ein ganz persönliches Erinnerungsstück auch zu einer politischen Reflektion des Protestgeschehens.
In intensiven Bildern und irritierenden Einstellungen erzählt Tomasz Wasilewski von einer verstörenden Liebe und einem unerhörten Familiengeheimnis. Ein großartiges Cast und die außergewöhnliche Kamera machen den Film zu einem außergewöhnlichen Erlebnis.
Die neue Adaption nach Christine Nöstlingers beliebter Kinderbuch-Vorlage stellt Titelfigur Franz in einen schweren Loyalitätskonflikt. Seine besten Freunde verstehen sich untereinander nicht mehr. Franz will sie durch eine »Ermittlung« zusammenbringen, aber es kommt alles ein bisschen anders. Temporeich und doch mit Liebe für Details inszeniert, trifft der Film den richtigen Tonfall zwischen Abenteuergeschichte und Parabel auf den Wert der Freundschaft.
Ein Zweipersonenstück im und über Wasser: Zwei Schwestern von sehr unterschiedlichem Temperament werden bei einem Freizeittauchgang in einen Unfall verwickelt, die eine muss unter höchstem Zeitdruck die andere retten. Hochgradig spannend, dabei einfallsreich und mit genau der richtigen »Bodenhaftung« inszeniertes Actionkino.
Mit seiner Adaption einer Erzählung des japanischen Autors Tsutomu Mizukami gelingt Regisseur Yuki Nake eine Zen-Übung in erlesenen Bildern.
Das Drama über die Affäre einer verheirateten Fischerin mit einem jungen Mann verläuft entgegen der theatralischen Konventionen einer klassischen Ehebruchfilmes, verliert aber trotz stimmungsvoller Inszenierung und Cécile de France als vitaler Heldin zunehmend an Glaubwürdigkeit.
Die Regisseurin begibt sich auf eine ebenso forensische wie poetische Spurensuche im Nachlass des eigenen Urgroßvaters, der sein Leben der naturkundlichen Beobachtung widmete und zeichnet das Porträt eines unangepassten Lebens.
Ein junger Mann öffnet seinem Tod die Tür und schindet dann noch ein paar abenteuerliche Tage mit Mutter, Ex-Freundin und Sohn: In seinem Spielfilmdebüt gelingt es Charly Hübner, das lockere Geplänkel der Vorlage von Thees Uhlmann in eine Balance zwischen charmanter Komödie, zauberhaftem Märchen und rasantem Roadmovie zu bringen.
Ein Roadmovie zu Wasser. In den verschlungenen Gräben und Wasserstraßen Mecklenburg-Vorpommerns paddelt eine nicht mehr ganz junge Frau in die Familienvergangenheit und findet dann ihr ganz persönliches Alaska.
Ein typischer Kaurismäki – und trotzdem etwas ganz Besonderes. Ansa (Alma Pöysti) und Holappa (Jussi Vatanen), beide einsam, wortkarg und aus der Arbeiterklasse, lernen sich in einer Karaoke-Bar kennen und finden dann nur sehr zaghaft und über Umwege zueinander. Von den Figuren über den Humor bis hin zum unverwechselbaren Look ist alles am 20. Spielfilm des Finnen so, wie Fans es erwarten. Und doch begeistert »Fallende Blätter« nicht nur mit tragikomischem Charme und einem tollen Darsteller*innen-Duo in den Hauptrollen, sondern auch mit vielen kleinen Momenten unerwarteter Frische, die aufs Wundervollste beweisen, dass Kaurismäki noch längst nicht auf Altherren-Autopilot geschaltet hat.
Der Taiwanese Hou Hsiao-hsien ist einer der wenigen Filmemacher, dem man Nostalgie nach der Gegenwart zutraut. Der Off-Kommentar seines Films von 2001 wahrt eine Distanz von zehn Jahren zur erzählten Zeit. Er greift ihr zuvor, weiht das Publikum stets in das ein, was im Leben der jungen, rastlos durchs nächtliche Taipeh streifenden Vicky (Shu Qi) geschehen und was in den Bildern sogleich lebendig werden wird.
Aus dem experimentierfreudigen One-Night-Stand eines verheirateten, schwulen Mannes mit einer ungebundenen, jungen Frau entwickelt sich ein schmerzhaft verknotetes Liebestriangel, das keinen der Beteiligten am Ende unbeschadet lässt. Hervorragend gespieltes, ökonomisch inszeniertes Beziehungsmelodram mit leisem empathischen Humor.
Ein betagtes Ehepaar wagt im trauten Heim eine kleine Zeitreise, zurück zu den belebenden ersten Momenten ihrer Liebe. Das Wunder des neuen Films von Reiner Kaufmann besteht darin, wie Senta Berger und Günter Maria Halmer dieses Plauderkammerspiel zum Strahlen bringen.
Auch in der Fortsetzung seines Filmes »Enkel für Anfänger« zeigt Regisseur Wolfgang Groos, dass Älterwerden sich vor allem in Kontrast der Generationen zeigt. Und dass dies auch lustig sein kann, dafür steht das erprobte Starensemble.
Der Queertheoretiker Paul B. Preciado setzt sich in seinem Regiedebüt anhand von Virginia Woolfs Roman »Orlando« mit Fragen um Gender und Transition und dem Selbstverständnis nonbinärer Menschen auseinander: poetisch, verspielt und dissident.
Eine aufwühlende Dokumentation über die Konflikte in Uganda und den Prozess gegen Dominic Ongwen, der sich als erster ehemaliger Kindersoldat vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag verantworten musste. Der Film stellt hochkomplexe Fragen und macht die Notwendigkeit deutlich, mehr über die Geschichte und Kultur eines solchen Landes zu wissen.
Der Titel von Éric Besnards neuer bukolischer Komödie ist Programm: Es geht darum, was »wirklich zählt« im Leben. Ein quirliger Geschäftsmann (Lambert Wilson) wird vom Gehetztsein seiner urbanen Existenz erlöst, als er in den Bergen auf einen schroffen Aussteiger (Grégory Gadebois) trifft. Das Drehbuch schlägt der eigenen Vorhersehbarkeit sachte Schnippchen – und dank der Spielfreude der Darsteller erweisen sich die Lebenslektionen als erfreulich wechselseitig.
Ein Hausboot auf der Seine in Paris dient als Tagesstätte für Menschen mit psychischen Problemen, denen dort ein geschützter Raum und Teilhabe auf Augenhöhe geboten werden. Der Goldener Bär-prämierte Dokumentarfilm beobachtet den dortigen Alltag zugewandt und wertschätzend.
Ein forscher und kämpferischer Parforce-Ritt durch den zeitgenössischen Feminismus im farbenfroh gestalteten akademischen Gewand.
Über mehr als zwei Jahrzehnte erzählt die israelisch-französische Regisseurin Michale Boganim vor dem Hintergrund des Israel-Libanon-Konflikts von dem Schicksal zweier Familien von beiden Seiten der Grenze – kraftvoll, voller Poesie und sehr berührend.
Klischees vom Künstler als narzisstisches großes Kind zwischen Wahnsinn, Obsession und Genie sind in ihrer visuellen und sinnlichen Pracht oft unterhaltsam. Mary Harrons Stippvisite im Zauberuniversum »Dalíland« kratzt dennoch selten an der Oberfläche, unter der bei Dalí so vieles brodelt.
Liam Neeson will als Investmentbanker morgens nur schnell seine Kinder zur Schule bringen – und findet sich durch eine im Auto versteckte Bombe erpresst. Der in Berlin gedrehte Thriller wird einzig von Neesons Auftritt belebt, der selbst als zum bloßen Autofahrer reduzierter Held in einem wirren Plot noch mitzureißen versteht.
Die 12-jährige Sofia verbringt unfreiwillig die Sommerferien mit der Oma bei ihrer Großtante auf der kroatischen Insel Hvar. Radivoje Andrić erzählt eine education sentimentale, an deren Rand Traumata der Jugoslawienkriegen eine Rolle spielen. Ein liebevoll-überdrehter Sommerfilm über ein Mädchen in der Selbstfindungsphase und darüber, dass miteinander reden alte Wunden heilen kann.
2007 wurde die Studentin Reyhaneh Jabbari in Teheran wegen Mordes zum Tode verurteilt, nachdem sie den Täter beim Vergewaltigungsversuch erstach. Steffi Niederzoll rekonstruiert den Fall und den beispiellosen Kampf einer Mutter. Ein so furioser wie erschreckender Dokumentarfilm.
Zwischen humanistischem Anspruch und interessengeleiteter »Realpolitik«: Lia Erbals Erinnerung an die Massenproteste in Hong Kong 2019 führt das Dilemma der China-Politik der Europäischen Union vor Augen. Der Film bleibt aber in seiner Kritik eher zurückhaltend.
Sabine Michel ergründet behutsam die biografischen Überschneidungen und geteilten Erfahrungen als Frau, Mutter und Ostdeutsche in der Politik und kitzelt unterschiedliche politische Überzeugungen nur subtil heraus, ohne selbst zu werten.
Dokumentarfilm über den deutschen Avantgarde- und Animationsfilmpionier Oskar Fischinger (1910-1967), In einem langen Interview, geführt 1993, gibt seine Witwe (und engste Mitarbeiterin) Elfriede Fischinger auf lebendige und persönliche Weise Auskunft über die Arbeit ihres Mannes, dessen kurze Filme abstrakte Formen mit Musik verbanden.

Film