Kritik zu Barstow, California

© Jip Film

2018
Original-Titel: 
Barstow, California
Filmstart in Deutschland: 
03.10.2019
L: 
76 Min
FSK: 
Ohne Angabe
S (OV): 

Ein Porträt als poetische Ortserkundung: Der Dokumentarfilmer Rainer Komers reist in die Mojave-Wüste, wo der Dichter Spoon Jackson aufwuchs

Bewertung: 4
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Fährt man auf der Interstate 15 von Los Angeles nach Las Vegas, kommt man durch eine Kleinstadt namens Barstow: ein gottverlassenes Kaff, das nur aus ein paar Motels, Tankstellen und einem Rangierbahnhof zu bestehen scheint. Rainer Komers, Regisseur und Kameramann, fängt schon in den ersten Einstellungen seines Films die eigenartige Verlorenheit des Ortes ein. »Landscape listening« nennt er das, wie bereits in den ersten beiden Filmen seiner American-West-Trilogie. Komers spricht mit den Einwohnern und sammelt Eindrücke, rein beobachtend und zuhörend, von der langsam aussterbenden Stammbesatzung des Diners und den ewig rollenden Güterzügen über eine Handvoll Geologiestudenten auf Wüstentour bis hin zum Training Center der U.S. Army, wo am Tag der offenen Tür auch kleine Jungs schon ans schwere Maschinengewehr dürfen. Außerdem spricht Komers mit Familienmitgliedern von Spoon Jackson und folgt den Spuren des afroamerikanischen Dichters in seinem Heimatort.

Nie ist Jackson selbst in »Barstow, California« zu sehen. Nur seine Stimme ertönt aus dem Off, mit Passagen aus seiner Autobiografie »By Heart«. Seit 1977 sitzt er im Gefängnis, wegen eines Tötungsdelikts von einer weißen Jury verurteilt zu lebenslang »without possibility of parole«, ohne Möglichkeit vorzeitiger Haftentlassung. In seinen Texten erzählt er von seiner Kindheit in Barstow als zweitjüngster von 15 Brüdern, vom Fangenspielen in der nächtlichen Wüste und dem Gefühl der Freiheit, wenn er an die weite Welt jenseits der Hügel dachte. Doch immer wieder klingt auch die Gewalt an, die sein Leben schon früh begleitete. Sein Vater verprügelte ihn häufig, und später, auf der Straße mit den anderen Jungs, verging die Zeit mit Dope, Alkohol, Diebstählen und Schlägereien. Er war gerade 20, als er für immer hinter Gitter wanderte.

So ertönt denn auch als erstes Geräusch des Films, noch bevor ein Bild zu sehen ist, eine ins Schloss fallende schwere Eisentür. Außer Jacksons Stimme sind es danach vor allem ein paar wiederkehrende Geräusche, die in »Barstow, California« leitmotivisch eingesetzt werden und in exzellentem Zusammenspiel mit den prägnanten, doch nie ausgesucht »schönen« Bildern die Atmosphäre des Films prägen. Besonders eindringlich: das Kreischen und Dröhnen der Güterzüge und das Rauschen des Windes. Es ist eine ganz eigene, faszinierend schwebende Filmsprache zwischen Lyrik und Essay, die Komers für seinen Film gefunden hat.

Je länger dieser läuft – er ist mit 76 Minuten bemerkenswert kurz –, desto mehr verdichten sich die Beobachtungen in Barstow und die Fragmente aus Spoon Jacksons Erinnerungen zu einer melancholischen Reflexion auf die US-Gesellschaft. Eher beiläufig beschwört der Film in seinen Bildern die Mythen des amerikanischen Westens – und kontrastiert damit die ärmliche Realität, den Niedergang im Zeitalter des entgrenzten Neoliberalismus: verfallende Wohnviertel, verschwundene Nachbarschaften, Menschen, die in ihrem Auto wohnen, ein immer noch virulenter Rassismus. Was anfangs nur die Verlorenheit eines Ortes in der Wüste zu sein schien, erhält so nach und nach eine politische Dimension.

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