Erwartungen und Anfechtungen

Am Wochenende zirkulierte in Gesprächen mit Freunden und KollegInnen eine Frage, die uns zurück in eine andere Welt versetzte: Was ist eigentlich aus Kenneth Branaghs Remake von »Tod auf dem Nil« geworden? Kommt er noch oder lief er schon? Die Ansichten gingen auseinander.

Vor der Pandemie hatte er beträchtliche Neugier geweckt. Wir alle kannten den Trailer, der effektiv und eventuell vielversprechend war. Ein höchst wahrscheinlicher Blockbuster. Eine Kollegin war davon überzeugt, ihn bereits gesehen zu haben (wahrscheinlich aber nicht im Kino), räumte dann jedoch ein, dass sie ihn mit dem Vorgänger »Mord im Orient Express« verwechselte. Ein Bekannter vermutete, das Studio habe ihn wegen der Skandale um Armie Hammer stillschweigend begraben. Ein guter Freund schließlich war überzeugt, Branaghs nachfolgende Regiearbeit »Belfast« käme früher als die Agatha-Christie-Adaption heraus. Ein Blick in den Wikipedia-Eintrag des Films hätte rasch Aufklärung gebracht. Aber es war ein erfreulich un-digitales Wochenende. Tatsächlich soll der Film am 10. Februar herauskommen, eine Woche vor »Belfast« übrigens, der mittlerweile womöglich höhere Erwartungen weckt.

Das hätten wir auch mit einem Blick auf den aktuellen Startplan des Verbandes der Filmverleiher herausfinden können. Genauer gesagt: mit zwei Blicken, denn zuvor erlebt die Erstverfilmung mit Peter Ustinov ab dem 4. Januar in der Reihe "Best of Cinema" ihre Wiederaufführung. Auf dem Startplan geschehen momentan ohnehin merkwürdige Dinge. In den nächsten drei Wochen laufen, wie in den Monaten zuvor, jeweils zwischen 15 und 19 Filme an. Danach ist die Anzahl der Neustarts plötzlich einstellig. Man könnte dies für ein Dezember-, ein Vorweihnachtsphänomen halten, aber die Tendenz setzt sich fort. Dabei ist der vielbeschworene Filmstau noch längst nicht beseitigt. Indes erhalte ich fast täglich Meldungen über Startverschiebungen. Zudem fällt mir auf, dass die Starts zahlreicher attraktiver Titel gleich in weiter oder mittelfristiger Ferne angesetzt werden.

Auf dem Filmmarkt herrscht – im Gegensatz zu anderen Wirtschaftszweigen, die unter den Lücken in ihren Lieferketten ächzen – momentan kein Mangel. Aber Verleiher und Kinobesitzer sind neuerlich verunsichert. Und das ganz zu Recht. Die Verdrängungsmechanismen sind beim bisherigen Filmaufkommen einfach zu mächtig. Sie wirken unterschiedlich. Der neue Bond mag in Zeiten der Pandemie sein erhofftes Potenzial zwar nicht voll ausschöpfen, aber zumal in Deutschland schlägt er sich prächtig. Während diese Hochsicherheitswette glimplich ausging, ist aus den USA dieser Tage jedoch zu hören, dass die nächsten Episoden von Franchises, die eigentlich als Selbstgänger gelten (»Star Wars«, »Star Trek«, »Transformers«) um mindestens ein Jahr verschoben werden. 

Während die massive Kinopräsenz der Blockbuster mit Streuverlusten kalkuliert, ist im hiesigen Arthouse-Bereich die Situation deutlich unwägbarer. Etliche Filme rauschen an ihrem zweifellos geneigten Publikum schlicht vorbei. Nach ein, zwei Wochen sind sie oft schon verschwunden. Sie können kein Momentum entwickeln. Nachdem ich im Oktober meinen Eintrag "Atmosphärischer Einspruch" zu »Zimmer 212« veröffentlichte, beschwerten sich LeserInnen, dass sie ihn sechs Tage (!) nach dem Start im Berliner Kinoprogramm nirgendwo entdecken konnten.

In Frankreich ist es ähnlich. Der Unmut der unabhängigen Verleiher wächst massiv. Während die publikumswirksamen Komödien leidlich reüssieren, geraten "kleine" Filme unweigerlich ins Hintertreffen. Jeder Film, der heuer in Cannes gezeigt wurde, blieb bislang weit unter den Erwartungen. Die Branche macht dafür vor allem die Maßnahmen der Regierung verantwortlich: Der von ihr eingeführte "pass sanitaire" (Gesundheitsnachweis) schrecke das potenzielle Publikum ab. 41 Prozent der eigentlich regelmäßigen Kinogänger haben laut aktuellen Umfragen schlicht keine Lust, im Kino eine Maske zu tragen. Die französische Philosophin Sandra Laugier hat vor vier Tagen in "Le Monde" zu diesem Phänomen eine bemerkenswerte Kolumne publiziert. In der Überschrift nimmt sie ihren Befund praktisch schon vorweg: Ebenso wie der Konsum von Serien haben sich der von Filmen längst in dem heimischen Raum verlagert.

Sie diagnostiziert einen Kulturwandel. Seit 120 Jahren, also seit dem Zeitpunkt, als der Film aufhörte, ein reines Jahrmarktvergnügen zu sein, habe sich die Kinoerfahrung nicht wesentlich verändert. Ihre Definition ist wunderschön: ein geschlossener Raum, der allen offen steht. Jetzt, nachdem sich die Zuschauer in der hygienischen Obhut von Netflix und Co. eingerichtet haben, stelle er eine Bedrohung dar. Allerdings schildert sie eindrücklich, was sie bei ihren letzten Kinobesuchen erlebte: Am Ende der Vorführung von so unterschiedlichen Filmen wie »Drive my car« (Regie: Ryusuke Hamaguchi), »Keine Zeit zu sterben« und »La Fracture« (Catherine Corsini) applaudierte das Publikum plötzlich. Wem spendeten sie Beifall? Den Filmkünstlern? Dem wiedergefundenen Vergnügen? Taten sie es, um das Gefühl von geteilter Gemeinschaft zu bekräftigen, das dem Kinoerlebnis eigen ist und sich gerade anders bestimmen muss? Alle Möglichkeiten hält sie für wahrscheinlich (Pardon, die erste habe ich ihren Überlegungen hinzugefügt): Selbst wenn man allein ins Kino geht, ist man nicht so allein wie vor dem Bildschirm zuhause.

Am letzten Wochenende versuchte ich übrigens, einige meiner Gesprächspartner zu einem Kinobesuch zu animieren. Sie lehnten ab: im Hinblick auf die verheerend ansteigenden Infektionszahlen. Das verstand ich. Allein gehen wollte ich nicht, das Wiedersehen mit ihnen war wichtiger. Obwohl es so viele Filme gibt, die ich dringend nachholen müsste. Aber wie lange werden sie auf mich warten? Die Freundin, mit der ich fürs nächste Wochenende verabredet bin, schlug hingegen sogleich vor, ins Kino zu gehen. Abgemacht.

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