Die Kunst des Fettnäpfchens

Erinnern Sie sich vielleicht noch an Der alte Mann und das Kind, der 1967 in Frankreich herauskam und ab und zu noch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen läuft? Er handelt von einem achtjährigen jüdischen Jungen, der während der deutschen Besatzung aufs Land verschickt wird und dort in die Obhut eines alten Mannes (gespielt vom legendären Michel Simon) gerät, der mit seinen Vorurteilen gegen Juden, Freimaurer und Kommunisten nicht hinter dem Berg hält. In seiner Zeit war das Langfilmdebüt von Claude Berri ein ziemlich berühmter Film, spielte gutes Geld ein und ist seither zu einem mittleren Klassiker geworden.

Aber der Verleih und auch der Regisseur des Films waren vor dem Kinostart mächtig nervös, ob das Publikum ihn akzeptieren würde. Bis dahin hatte es kaum Filme über die Okkupation und erst recht keine mit einer antisemitischen Hauptfigur gegeben. Der franko-libanesische Produzent Jean-Paul Rassam, eine der schillerndsten Figuren der französischen Filmgeschichte, teilte ihre Sorgen nicht. Er war überzeugt davon, dass Kino durchaus drastisch sein und weh tun darf (mit Das große Fressen verdiente er später ein Vermögen). „Den Franzosen war es seit zwanzig Jahren untersagt, Dummheiten über Juden zu sagen“, argumentierte er, „und sie können es kaum erwarten, das wieder tun zu dürfen. Und wenn diese Dummheiten auch noch aus dem Mund ihres Idols Michel Simon kommen, werden sie sich köstlich amüsieren. Außerdem riskieren sie nichts, denn der Film wurde von einem Juden gedreht, der den Konzentrationslagern entkommen ist. Sie werden sich schütteln vor Lachen. Außerdem ist der kleine Junge hinreißend.“

Michel Simon erhielt auf der Berlinale den Silbernen Bären als Bester Hauptdarsteller. Francois Truffaut rühmte Der alte Mann und das Kind als den ersten wahrhaftigen Film über die Besatzungszeit. Allerorten wurde er als Meisterwerk eines humanistischen Kinos gefeiert; nicht zuletzt in den USA. Auch dort verstand man in den 1960er Jahren noch, dass ein Film über einen Antisemiten noch kein antisemitischer Film sein muss. Niemand musste eine Ansteckungsgefahr fürchten. Der alte Mann und das Kind war einer mündigen Gesellschaft zumutbar.Es ist fraglich, ob er in den USA auch heute noch so aufgenommen würde.

Die muntere Xenophobie-Komödie Monsieur Claude und seine Tochter, die ja auch hier zu Lande einen immensen Erfolg feiert, ist dort jedenfalls nicht willkommen. In diversen Tageszeitungen, darunter dem "Guardian" und "Le Figaro", ist dieser Tage zu lesen, dass er in England und den USA nicht herauskommen soll. Dabei hat er schon einen internationalen, soll heißen englischsprachigen Titel. Er ist einigermaßen dumm und stellt eine unverfängliche Hochzeitskomödie in Aussicht: Serial (Bad) Weddings. Aber namentlich ungenannte Verleiher aus beiden Ländern schrecken davor zurück, ihn anzukaufen. Sie lehnen ihn ab, weil er „politically incorrect and possibly racist“ sei. Dieses „possibly“ sollte man sich einen Moment auf der Zunge zergehen lassen. Der bloße Anfangsverdacht einer möglichen sittlichen Entsicherung des Publikums genügt also schon, überprüft werden muss er nicht. Das Publikum soll nicht in die Verlegenheit kommen, sich einer Zweideutigkeit auszusetzen. Die Verleiher werden mit der Vermutung zitiert, ein englischsprachiges Publikum würde es sich nicht gestatten, über Schwarze, Juden, Muslime und Asiaten zu lachen. Die Idee, in Philippe de Chauverons Komödie könne man es auch mit ihnen tun, ist ihnen nicht gekommen.

Dahinter darf man einerseits die puritanische Angst vermuten, nicht mit dem Bösen in Berührung zu geraten. Das Böse wäre in diesem Fall der Umstand, dass die Pointenhoheit bei dem bigotten Monsieur Claude, mithin im falschen Lager liegt. Dass die ethnisch gemischte Kohorte der Schwiegersöhne auch untereinander rassistische Vorbehalte hegt, verschlimmert die Gemengelage noch. Eine hübsche Rechtfertigung für die spitzen Finger der angloamerikanischen Verleiher wäre womöglich der Hinweis, dass die Zuschauerzahlen des Films nach dem Erfolg des Front National bei der letzten Europawahl noch einmal abrupt in die Höhe schnellten. Es ist nicht auszuschließen, dass auch Parteigänger Marine Le Pens ihr helles Vergnügen an der Komödie haben könnten. Tatsächlich ist der phänomenale Erfolg des Films (über 12 Millionen Zuschauer) ein neuerlicher Beleg dafür, dass die großen Kassenerfolge des französischen Kinos in aller Regel Phänomene der Aussöhnung waren: zwischen Kirche und Kommunismus (Don Camillo und Peppone), mit der Provinz (Willkommen bei den Sch'tis) der Klassengesellschaft (Ziemlich beste Freunde), der menschlichen Dummheit (weshalb sonst war Louis de Funès ein solcher Dauerbrenner?) und dem lässlichen Rassismus (Monsieur Claude). Aber lässt sich der gestiegene Publikumszuspruch nach der aus dem Ruder gelaufenen Wahl im Gegenzug nicht auch als demokratischer Abwehrreflex deuten?

Die Ablehnung des Films mag noch einen anderen Hintergrund haben. Wichtige Zugangsschleusen zum anglo-amerikanischen Markt sind die ersten Kritiken, die in den Branchenblättern "Variety" und "The Hollywood Reporter" erscheinen. Sie entscheiden nicht über späteres Wohl und Wehe von Filmimporten, geben Verleihern aber einen ersten Anhaltspunkt, welche Marktsegmente einem ausländischen Film offenstehen und welche Sensibilitäten des heimischen Publikums sie möglicherweise verletzen könnten. Man erinnere sich nur an die vorauseilende Bigotterie der Rezension, die Jay Weisberg in "Variety" zu Ziemlich beste Freunde in "Variety" veröffentlichte: Auch in ihr wurde der Vorwurf des Rassismus' laut. Der Wind, der nun in den Branchenblättern Monsieur Claude entgegenschlägt, fügt sich in das Bild, europäische Blockbuster zögen dort per se heftigen, ja fundamentalen Argwohn auf sich. Die Kritik wird so zum Agenten einer protektionistischen Politik, die sich zumal in den USA gegen die ausländische Konkurrenz nach Kräften abschottet und ihr allenfalls die Arthouse-Nische zubilligt.

Man kann nur spekulieren, welche Dimensionen der Erfolg von Monsieur Claude in Amerika und England angenommen hätte, ein welch großes (oder eben kleines) Geschäft sich dortige Verleiher nun entgehen lassen. Ihre Argumente laufen jedenfalls Gefahr, der politischen Korrektheit einen schlechteren Leumund zu verschaffen als der Xenophobie. Erinnert sich in den USA denn niemand mehr an die weisen Worte von Mel Brooks, der stets für die Gleichberechtigung des Spotts plädierte? Auf die Frage, wie er es wagen könne, so viele Witze auf Kosten von Minderheiten zu reißen, antwortete er entrüstet: „Wir dürfen sie nicht ausnehmen!“

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