Emily Atef: Ich brauche immer ein Licht

»Irgendwann werden wir uns alles erzählen« (2023). © Pandora Film / Row Pictures

»Irgendwann werden wir uns alles erzählen« (2023). © Pandora Film / Row Pictures

Die Regisseurin Emily Atef über Frauen in der Krise, gecoachte Liebes­szenen und die Frage, warum der deutsche Osten im Film oft so grau wirkt

Geboren wurde Emily Atef 1973 als Tochter eines Iraners und einer Französin in Westberlin. Die Familie zog zunächst nach Los Angeles, später nach Frankreich, wo Atef die Schule abschloss. In den 90ern arbeitete sie in London als Schauspielerin. Von 2001 bis 2005 studierte sie Regie an der Berliner DFFB. In ihren Filmen begleitet Atef immer wieder Frauen, meist junge, in Lebenskrisen, in »Molly's Way« (2006) eine Mutter, die den Vater ihres ungeborenen Kindes sucht, in »Das Fremde in mir« eine Mutter mit Wochenbettdepression, in »Töte mich« einen suizidalen Teenager, in »3 Tage in Quiberon« (Deutscher Filmpreis für die beste Regie) die mit ihrem öffentlichen Bild ringende ­Romy Schneider und zuletzt in »Mehr denn je« eine junge Frau, die sich mit einer tödlichen Lungenkrankheit auseinandersetzen muss. 

epd Film: Auf unterschiedliche Weise erzählen Ihre Filme immer wieder von Frauen, die sich gegen gesellschaftliche Erwartungen auflehnen und ihren eigenen Weg suchen. Wie viel steckt denn von Ihnen in diesen Frauen?

Emily Atef: Was die konkreten Erlebnisse betrifft, gar nicht so viel. Nehmen wir beispielsweise Rebecca in »Das Fremde in mir«, die eine postpartale Depression hat: Damals war ich noch nicht mal Mutter. Aber in dieser Idee, sich zu emanzipieren, frei zu leben, haben diese Frauen dann doch viel von mir. Mich interessieren Frauen in existenziellen Krisen, Frauen, die sich ihren Weg erkämpfen. Was oft hart, am Ende aber immer mit einem Schimmer Hoffnung verbunden ist, auch wenn er nur so klein ist wie bei Romy Schneider, die am Ende von »3 Tage in Quiberon« dem Trubel entkommt und mit ihren Kindern zu Hause bleiben kann. Oder wie jetzt im Fall von Maria, die eine griechische Tragödie erlebt, aus der sie aber nicht gebrochen hervorgeht, weil sie eine extreme, leidenschaftliche Liebesgeschichte erlebt hat. Ich kann sehr tief in die dunklen Teile der Psyche der Figuren schauen, brauche als Optimistin aber immer auch ein Licht, eine Hoffnung.

Ist Filmemachen für Sie auch eine Form von angewandtem Feminismus?

Ganz bestimmt. Allerdings habe ich auch mal einen Fernsehfilm (Macht euch keine Sorgen, 2017) gedreht, über einen Vater, dessen Sohn zum IS geht, über seine Verlorenheit und Hilflosigkeit. Komischerweise hatte der Schauspieler Probleme damit, nicht so aktiv und cowboyhaft sein zu dürfen. Aber in gewisser Weise ist es auch Feminismus zu sagen, dass so ein Mann, der nicht weiß, wie er seinen Sohn zurückbekommt, aber nicht mit dem Gewehr loszieht, auch interessant und stark ist. Feminismus bedeutet Gleichwertigkeit der Geschlechter. Wir sind 50 Prozent Frauen, 50 Prozent Männer, aber wir werden im gleichen Job völlig unverständlicherweise immer noch nicht gleich bezahlt. Wir dürfen uns künstlerisch ausdrücken, zumindest in den freien Ländern, aber es gibt noch keine Balance. Ich möchte genauso viele Filme von Frauen sehen wie von Männern. Ich wünsche mir, dass meine zwölfjährige Tochter, wenn sie so alt ist wie ich, die gleichen Chancen hat und dass die Perspektiven in der Malerei, in der Kunst, im Kino nicht mehr von Männern dominiert werden.

Sie scheinen ja schon bewusst darauf zu achten, dieses Defizit auszugleichen: Wie hat es denn dieser Mann zum Helden eines Ihrer Filme geschafft?

Das war 2016, als in Europa gefühlt jede Woche noch eine Bombe losging, als auch viele junge Menschen, Jungen und Mädchen, aus dem Westen dorthin gingen. Und ich fand dieses Buch, das zwei Frauen geschrieben haben, menschlich faszinierend: wie man als Elternteil gar nicht bemerkt, wenn das eigene Kind in eine Sekte wie den IS abdriftet, und wie man es zurückholt. Was mich interessiert, sind menschliche Geschichten. Aber schon als Kind war ich eine sehr frustrierte Kinogängerin, als ich merkte, dass die Helden nie Mädchen waren – mal abgesehen von Pippi Langstrumpf, die verrückt, frei und stark war, ein Pferd heben und gegen Piraten kämpfen konnte. Aber ich liebte auch Mogli und wollte wie er mit Panthern reden. Als Teenager wurde mir bewusst, dass Filme meist aus männlicher Perspektive erzählt wurden. Als junge Frau hätte ich mir einen Film über die Lust einer jungen Frau, über weibliches Begehren gewünscht. Damals erzählten Filme fast nur von männlichem Begehren, während die Frauen oder Mädchen die Objekte dieses Begehrens waren.

Zu Ihrem neuen Film: Hatten Sie denn überhaupt gar keine Bedenken, in unseren hochsensibilisierten Zeiten von einem ja doch toxischen Mann zu erzählen?

Klar habe ich daran gedacht. Das Buch hatte ich 2012 gelesen, da waren die Zeiten noch anders. Natürlich bin ich dankbar für die MeToo-Revolution, weil sie dazu geführt hat, dass wir Frauen als Künstlerinnen verstärkt eine Stimme haben. Aber wa­rum sollte ich jetzt nicht auch von einer Frau erzählen dürfen, die Fehler macht, die einen falschen Typen begehrt. Wer bestimmt denn, was ich erzählen darf? Jede Frau ist anders, jede Frau hat andere Bedürfnisse, und von denen wollen wir erzählen, weil es sie in unserer Gesellschaft gibt. Mich zu zensieren, wäre gegen die Idee von MeToo.

Beim Rückblick auf das Jahr 2022 fand ich auffallend, wie viele tolle Filme von Frauen dabei waren. Haben Sie das Gefühl, dass es für Sie leichter geworden ist?

Ja, es ist leichter geworden, Filme zu machen, auch wenn ich der Meinung bin, dass da noch Luft nach oben ist, dass es mehr Platz für Frauen geben sollte. Das sieht man schon am Wettbewerb der Berlinale: »Hurra, es sind sechs Filme von Frauen, unter insgesamt 19 Filmen?« Grund zum Jubeln gibt es, wenn es acht oder neun sind, oder vielleicht mal elf in einem Jahr. Noch mal: 50 Prozent der Menschheit sind Frauen, diese Perspektive muss sichtbar sein. Ich habe zahllose Filme über den Ersten und Zweiten Weltkrieg gesehen, aber wo sind die Filme über die Frauen, die zu Hause geblieben sind, über die unglaublichen und tragischen Geschichten, die sie erlebt haben? Warum ist das weniger wichtig? Das sollte nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer interessant sein. Und warum ist ein Film von einer Frau ein Frauenfilm, während der Film eines männlichen Kollegen einfach nur ein Film ist? Ich freue mich auf den Tag, an dem es auch bei mir nur heißt: »Du hast einen Film gemacht.«

Im Laufe der Zeit sind die intimen Szenen in Ihren Filmen immer sinnlicher und gleichzeitig geheimnisvoller und natürlicher geworden. Wie haben Sie diese Filmsprache entwickelt?

Ich muss sagen, ich liebe es, Liebesszenen zu inszenieren, möglichst ohne Worte. Weil man darin so viel über die Figuren erzählen kann, über das Begehren, die Liebe, die Verletzungen. Das ist wie ein Gemälde von zwei Körpern, auf das man stundenlang schauen könnte. Das ist die natürliche DNA von »Irgendwann werden wir uns alles erzählen«. Maria will sich ausprobieren, ihre Grenzen austesten, es physisch spüren; sie ist sehr aktiv, sagt aber auch deutlich: »So will ich es nicht.« Die Arbeit mit den beiden Schauspielern war eine Herausforderung, vor allem weil Marlene Burow  jünger, noch nicht so erfahren war. Die Intimität ist hier ein inte­graler Teil der Geschichte, und es ging um eine sehr animalische, physische Erotik. Da muss man sich langsam herantasten, um das zu bekommen, was ich mir vorstelle.

Wie gehen Sie daran, den Spielern diesen Raum zu bereiten?

Da wurde ich von einer ganz tollen Intimacy Coachin unterstützt, das ist ja ein neuer Beruf, den es dank MeToo gibt. Sie müssen sich das wie einen Stuntkoordinator vorstellen – wenn zwei Schauspieler einen Messerkampf spielen sollen und das sehr realistisch und auch gewalttätig wirken soll, aber natürlich niemand verletzt werden darf. Nur dass es hier um Liebesszenen mit nackten Schauspielern geht. Lange Zeit wurden Schauspieler, meistens weibliche, aber auch männliche, dabei tief verletzt, zum Teil so traumatisiert, dass sie nicht mehr in der Lage waren, ihren Beruf auszuüben. Das darf nicht passieren, niemand darf beim Filmemachen oder in irgendeinem anderen Beruf verletzt werden. 

Wie sah das konkret aus?

Vor allem haben wir sehr viel geprobt, schon zwei Monate vor dem Dreh. Was man unbedingt braucht, ist Vertrauen. Dass die Schauspieler mir vertrauen, ei­nander vertrauen, dass sie verstehen, worum es geht und was ich will. Und der Coach ist immer da, um uns zu helfen.

Ehrlich gesagt habe ich mich eher vor den Filmen gefürchtet, die unter Aufsicht von Intimacy Coaches entstehen . . .

Das ging mir genauso, als ich 2019 zum ersten Mal davon gehört habe. Das erschien mir erst mal befremdlich und anstrengend. Ich dachte: Ich brauche doch keinen Coach, der mir sagt, wie ich meine Schauspieler inszenieren soll. Dann habe ich Ita O’Brien kennengelernt, die eine britische Koryphäe auf dem Gebiet der Sexualerziehung ist, und begriffen, dass die nicht da sind, um zu kontrollieren, was man nicht darf, sondern um mir dabei zu helfen, das zu bekommen, was ich will. Nehmen wir Marlene Burow und Felix Kramer: Der Intimacy Coach sorgt dafür, dass wir alle auf der gleichen Wellenlänge sind, dass jeder genau weiß, was passiert, dass es keine unliebsamen Überraschungen gibt. Wir haben die intimen Szenen gemeinsam gesucht und choreographiert, so dass sich jeder wohl- und sicher fühlt. Natürlich wird da mit kleinem Team gearbeitet, aber erst durch die Genauigkeit der Vorbereitung und der Choreographie entstehen diese unglaubliche Freiheit und Intimität.

Wie sieht das konkret aus?

Da gibt es zum Beispiel eine tägliche Übung, bei der die Schauspieler einander gegenüberstehen, sich als Maria und Henner anschauen; Marlene und Felix sind dann weg. Dann fangen sie ganz behutsam an, einander zu berühren: Ist es okay, dass ich dich jetzt anfasse . . . Auch Johannes und Maria haben eine explizite Sexszene, wir haben darüber gesprochen, was für ein Tier er für sie ist und umgekehrt. Sie meinte: Er ist wie ein komischer Vogel, und ich bin eine Katze. Was macht eine Katze? Sie kratzt, sie beißt. Okay, lass uns das probieren. Und was macht der Vogel? Er versucht, der Katze zu entkommen, flattert ein bisschen. Das ist erst mal sehr konkret, sehr technisch und unerotisch. Sie fragt: Darf ich deine Schulter anfassen? Ja. Darf ich deine Hüfte anfassen? Darf ich dein Ohr anfassen? So findet man heraus, wo die Grenzen sind, welche Stellen man vielleicht nicht zeigen will. Es gibt immer Alternativen, mit denen sich alle wohlfühlen.

Sie haben es schon gesagt: Das klingt sehr technisch. Wie kommt da das Geheimnis wieder rein?

Im Grunde ist es wie Tangotanz: üben, üben! Es ist so genau choreographiert, dass die Schauspieler sich vollkommen frei fühlen und fallen lassen können.

Haben Sie bei Mehr denn je schon genauso gearbeitet?

Nein, da gibt es zwar auch sehr intensive Szenen, aber ich kannte Vicky Krieps und Gaspard Ulliel schon sehr lange; die beiden Schauspieler wollten und brauchten das nicht. Und wir haben sehr lange, sehr hart da­ran gearbeitet, die Szenen zusammen zu entwickeln. In diesem Fall ging es weniger um den eigentlichen Akt als um den langsamen Weg dahin, weil es das letzte Mal ist, dass sie sich lieben, riechen, fühlen. Was auch bedeutet, dass sie es so lange wie möglich herauszögern. Besonders wichtig war der Husten, das Atmen, das Luftholen. Wir haben die Liebesszene drei Mal hintereinander gedreht, je 15 Minuten, und Vicky Krieps hat mir danach gesagt, dass sie sich noch nie zuvor so hingegeben hat, sie war selbst sehr erstaunt. Trotzdem würde ich Mehr denn je heute definitiv auch mit Intimacy Coach drehen, obwohl ich mich schon immer sehr sicher gefühlt habe bei der Inszenierung von Liebesszenen.

Die erste Liebesszene zwischen Maria und Henner ist extrem langsam und nahezu schweigsam: War das so konzipiert oder hat es sich beim Dreh ergeben?

Ich stelle zunehmend fest, dass mir in meinen Kino- und Fernsehfilmen die Pausen immer wichtiger werden. Das Schweigen, alles, was zwischen den gesprochenen Worten liegt, erzählt so viel über das, was zwischen zwei Menschen passiert. Kann schon sein, dass manche das langweilig finden, aber ich finde, dass dabei eine ganz besondere Intensität entsteht. Diese Szene war schon im Drehbuch sehr langsam, aber in der Inszenierung wurde sie noch langsamer. Die Spannung hat auch damit zu tun, dass man als Zuschauer Angst hat, wenn sie in diese Höhle geht. Er spricht es aus: »Jetzt habe ich dich gefangen und in meine Höhle geschleppt«, aber sie ist diejenige, die sich entscheidet. Er lässt sie in der Küche zurück, sie könnte abhauen, aber sie folgt ihm ins Schlafzimmer. Sie ist diejenige, die ihren Reißverschluss öffnet. Sie ist diejenige, die bleibt, wenn er sie auffordert zu gehen.

Wie kommt man denn auf die Idee, den schluffigen Ossi aus »Warten auf’n Bus« in so einer kantigen Rolle zu besetzen?

Das war die Idee der wunderbaren Casting-Agentin Simone Bär, die vor kurzem gestorben ist. Statt mir 15 Schauspieler vorzustellen, hat sie immer nur einen vorgeschlagen, und das war Felix Kramer, von dem ich nichts gesehen hatte außer eine Episode von »Warten auf’n Bus«. Ich dachte mir: Der sieht ganz anders aus, als ich mir die Figur vorgestellt habe, aber er spielt etwas sehr schwer Darstellbares so gut, mit diesem Text, der wahrhaftig ist, aber auch lustig. Und er kommt auch aus dem Osten, er hat mir erzählt, dass er ein Vorbild hatte, der Henner sehr ähnelte in seiner Jugend, während er eine Schreinerlehre gemacht hat. Obwohl Felix wirklich extrem anders als Henner ist, hat er ihn verstanden, und ich wusste, er würde mit der Figur behutsam umgehen, sie verkörpern können.

Der Film gehört zu einer Reihe von Filmen, die offener, weniger herablassend auf die DDR und die Wendezeit schauen. Anders als die Autorin Daniela Krien haben Sie diese Zeit nicht persönlich erlebt. Wie haben Sie zusammengearbeitet, damit es stimmt?

Geboren bin ich in Westberlin; als ich sieben war, sind wir in die USA und dann, als ich Teenager war, nach Frankreich gezogen. In Marias Alter lebte ich auch auf dem Dorf, den Fall der Mauer habe ich nur im Fernsehen gesehen, was mich sehr berührt, aber auch traurig gemacht hat, dass ich nicht dabei war. Vor 20 Jahren bin ich nach Berlin zurückgekommen, um an der DFFB zu studieren, und hatte dort einen Kollegen und Freunde aus dem Osten, deren Eltern ich auch erlebt habe. Mich hat das immer fasziniert, ich habe mir viel erzählen lassen. Menschen von anderen Orten faszinieren mich, ich will ihre Geschichten hören. Im Osten habe ich sehr lebendige und offene Menschen erlebt. Mich langweilt es zu Tode, dass der Osten oft so grau und humorlos gezeigt wird – ich habe das anders erlebt. Mir lag daran, dass die Filmfiguren eine Lebendigkeit ausstrahlen, dass sie essen, laut reden, singen, streiten. Schon im Roman gefiel mir, dass er nicht so schwarz-weiß angelegt ist.

Die Landschaft tritt in Ihren Filmen jetzt stärker hervor, Norwegen in Mehr denn je, Thüringen in »Irgendwann werden wir uns alles erzählen«. Entspricht das Ihren persönlichen Vorlieben?
Die Landschaft wird mir als Menschen und als Filmemacherin immer wichtiger. Aber in diesem Film ist sie wie eine weitere Figur. Sie gleicht den Göttern in einer griechischen Tragödie: die Götter, die auf die Menschen gucken. Und dieser Lärm, den die Insekten machen, gleicht dem Chor, der warnt: Wir sehen, was mit euch passiert, Maria und Henner. Das wird schiefgehen, macht es nicht, macht es nicht! Ich wollte, dass die Natur Zeuge ist, dass sie brutal, heiß, laut und gewalttätig ist.

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