Nippon Connection 2019: Saitama ist überall

»Fly Me to the Saitama« (2019)

»Fly Me to the Saitama« (2019)

Ekstastisch, entfesselt, zu Tode betrübt und offensiv gesellschaftskritisch: Auf dem Frankfurter Festival Nippon Connection zeigte sich das Filmland Japan in beeindruckender Spannweite

Festivals sind so was wie Speed Dating mit Filmen: Man hat wenig Zeit, um herauszufinden, ob man sich auf eine Beziehung einlassen möchte. Im Fall von »Fly Me to the Saitama«, dem Gewinner der 19. Ausgabe von Nippon Connection, war es Liebe auf den ersten Blick – schon nach wenigen Minuten fiel das Publikum in verzückte Trance. Was ein bisschen eigenartig ist, denn das offizielle Thema des Films wirkt recht speziell: Es geht um das Imagegefälle zwischen dem super-urbanen Tokio und der angrenzenden Präfektur Saitama, die als Inbegriff der Ödnis und Provinzialität gilt.

»Fly Me to the Saitama« ist eine dieser Extravaganzen, die erheblich zum Charme des größten exterritorialen japanischen Filmfests beitragen. Nach einem Manga von Mineo Maya – ein Pionier des von Mädchen bevorzugten »Boys Love«-Genres – entfaltet sich die Geschichte vom Widerstand der grausam unterdrückten Saitamer gegen ein in glitzernden Palästen residierendes Tokioter Regime als charmant überkandidelte Mischung aus Revue, Romanze und Adventure. Realverfilmungen von Mangas oder Animes können schaurig sein. Dass Regisseur Hideki Takeuchi aber genau weiß, was er tut, merkt man im cleveren Finish, das auf grelle CGI-Lichtspiele verzichtet – zugunsten einer »semidokumentarischen« Großdemo am markanten Hochhaus der Stadtverwaltung Tokios mit Polizisten und Wasserwerfern, zwischen denen die buntgekleideten Saitamer Rebellen wie Cosplayer wirken. Da wird der Gesellschaftskommentar auffällig, den »Fly Me to the Saitama« von Anfang an mittransportiert.

Die Japaner gehen traditionell nicht so gern zum Protest auf die Straße, aber in diesem Jahrzehnt hat die Frequenz der Demonstrationen zugenommen. Gründe gibt es genug, wie man etwa an den Filmen ablesen konnte, die das Festival zu einem Schwerpunkt »Outsider« zusammengefasst hatte. Der in krümeligem Schwarz-Weiß auf 8mm gefilmte experimentelle »Ahum« von Yu Kajino folgt einem Mann, der nach einem Unfall in seinem Nuklearbetrieb die Bodenhaftung verliert. Die finsteren Bilder einer leer gefegten Großstadt entwerfen eine japanische Seelenlandschaft im Zustand der Verstrahlung – so hätte Tokio ausgesehen, wenn der Wind nach der Kernschmelze in Fukushima ein bisschen anders geweht hätte. Kosai Sekines »Love at Least« taucht in das Leben einer Hikikomori ein – die Bezeichnung für Menschen, die sich zu Hause einschließen. Die junge Yasuko scheint an einer endogenen Depression zu leiden. Doch im Verlauf des melancholisch-jazzig dahinperlenden Films wird klar, dass es »draußen«, im Berufsalltag, auch nicht besser ist. Um die verdrängte Praxis der Todesstrafe geht es in »Chaplain«, um die wirtschaftlich abgehängte Provinz und das psychotische japanische Verhältnis zum Militär in »Another World«. Und wie im letzten Jahr begegnete das Publikum vielen jugendlichen Verlorenen, Driftern und Zweiflern: von der visuell durchgeknallten J-Pop-Satire »We Are Little Zombies« bis zu »Jesus«, der sanften Geschichte eines frühen Verlusts.

Der vielleicht erschütterndste Beitrag kam, nicht ganz überraschend, vom Kultregisseur und Nippon-Ehrenpreisträger Shinya Tsukamoto, der Ende der Achtziger mit dem Cyberpunk-Film »Tetsuo« bekanntgeworden ist. Er sei besorgt um den Zustand Japans und der Welt, meinte Tsukamoto, als er »Killing« präsentierte: eine reduzierte, hypnotische, von einem bewusst gewalttätigen Score in die Katastrophe getriebene Samurai-Tragödie. In einer Umkehrung der klassischen Sieben Samurai-Konstellation – hier heizt ein alter Schwertkämpfer den Konflikt zwischen Bauern und Gesetzlosen erst richtig an – liefert der Film einen Kommentar zum neuen japanischen Nationalismus. Am Ende taumelt die Kamera entkräftet durch einen Wald, noch über den Abspann hinaus.

Das Programm von Nippon Connection umfasste rund hundert Beiträge, zum größten Teil mindestens Deutschlandpremieren, darunter auch Dokus, Animes, Kurzfilme, Kinderfilme, Klassiker (in der Retro, die der Schauspielerin Ayako Wakao gewidmet war). Und man kann sich fragen, wie ein Land regelmäßig einen solche Menge und vor allem: Vielfalt an würdigen Filmen – übrigens hat Hamburg auch seit 20 Jahren ein Japan-Festival – hervorbringt. Das Publikum in Frankfurt, zu dem viele Stamm- und Dauergäste gehören, die sich »eingesehen« haben und selbst die typischen, unspektakulären »slice of life«-Filme geduldig aussitzen, muss sich irgendwann mal entschieden haben: Eine Langzeitbeziehung mit Nippon Connection lohnt sich.

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