Ein Traumpalast mit ­Filmen ohne Film

Performances, Experimente: Oberhausen feiert seinen 60. Geburtstag mit einem großen Programm über das Expanded Cinema. Und erinnert an die Zeit, als Film noch etwas ausgesprochen Physisches hatte

Selbst Kenner der Oberhausener Kurzfilmtage wussten nichts von seiner Existenz. Es liegt versteckt und verschlafen, beinahe unsichtbar, hinter Hochhäusern mitten in der Oberhausener Innenstadt: das längst stillgelegte, unrestaurierte Europa-Palast-Kino, das von 1954 bis 1962 als Festivalkino diente und jetzt vom Oberhausener Theater als Übungsbühne genutzt wird. Dieser wunderbare, aus der Zeit gefallene Kinopalast war Schauplatz für einige Arbeiten im großen Sonderprogramm, das Oberhausen zu seinem 60. Geburtstag unter dem Titel »Memories Can’t Wait: Film ohne Film« mit beträchtlichem Aufwand auf die Beine gestellt hat.

»Film ohne Film«, darunter versteht man vor allem Werke, Installationen und Performances, in denen kein Film auf die Leinwand projiziert wird, sondern der Kinoraum selbst mit seiner Apparatur und den Zuschauern zum filmischen Ereignis wird. In den 1960ern erlebte das Kino ohne Film als expanded cinema einen Höhepunkt mit berühmt-berüchtigten Werken von Hans Scheugl oder Valie Export, die in Oberhausen gezeigt wurden. Valie Export höchstpersönlich hat im Europa-Palast Abstract Film No. 2, ihre Realprojektion aus dem Jahr 1967, präsentiert, in der sie Flüssigkeiten über die Spiegelfläche schüttet, die dann per Lichtquelle auf eine Leinwand projiziert werden, wo sie – ineinanderlaufend – immer neue, abstrakte Muster ergeben. Bei Exports Cine-Performance wurde der alte Traumpalast zum Workshop, zum Reflexionsraum über Magie und Dekonstruktion des Kinos.

Diese historischen Arbeiten sind heute wieder von besonderer Aktualität, und zwar in einem ganz anderen Kontext. Filme werden immer weniger auf der großen Leinwand geschaut, immer mehr im TV, auf dem Laptop, dem Handy gar. Und das Zelluloid ist längst aus den Vorführräumen verbannt zugunsten einer digitalen Projektion. Das Kino von heute ist bereits ein Kino ohne Film.

Eine heimliche Kritik an der Illusionsmaschinerie eines oft seelenlosen digitalen Kinos stellten die neueren Arbeiten in der »Film ohne Film«-Reihe dar: handgemachte Arbeiten wie etwa die grandiose Overhead-Projektion Looking for Love in the Hall of Mirrors des Kanadiers Daniel Barrow, die an die Laterna-Magica-Aufführungen vor der Zeit des Kinos erinnerte. Oder das erstaunliche Werk Demi-Pas des Franzosen Julien Maire, in dem mittels eines heftig modifizierten Diaprojektors mit echten Materialien gefüllte Boxen auf eine Leinwand projiziert werden, was einen unglaublichen  3D-Effekt ergibt. Mit den Performances von Export, Barrow oder Maire konnte man das Staunen im Kino neu entdecken.
Schwermut und Schmerz kennzeichneten dieses Jahr viele Filme des deutschen Wettbewerbs. Das vielleicht schönste Beispiel darin: L’amour sauvage von Lior  Shamriz. In einem tristen Berlin der Gegenwart trifft ein Mann eine Frau wieder. Einst haben sie zusammen in einer Band gespielt. Sie ist ein Star geworden, er wurde vergessen, ein ewiger, trauriger Rebell. Mitten in der Nacht wird der Mann abgeholt, entführt. Ein Alptraum, oder befinden wir uns nicht im Berlin der Gegenwart, sondern im Berlin Mitte der 30er Jahre? Memories Can’t Wait: Shamriz ist ein Thriller der Erinnerungen gelungen, Chris Marker verpflichtet.

Der Maria-Lassnig-Schülerin Mara Mattuschka war eine umfangreiche Retro gewidmet. Mattuschkas schmutzig-glamouröse Filme, über die letzten 30 Jahre entstanden, feiern das Körperliche und gerade die erotische Unvollkommenheit der Körper. Oberhausen zum 60. also war ein erstaunliches Festival des Staunens, der Körperlichkeit, des Schmerzes und des Schocks. All dies kommt zusammen im Werk des Südafrikaners Aryan Kaganof (früher Ian Kerkhof). Seine physisch spürbaren Filme über die grausame Geschichte Afrikas, aber auch über die condition humaine verfolgen den Zuschauer, sie machen seinen Kopf zum Workshop, zur Traumruine.

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