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Die Dokumentarfilmerin Helen Simon vollzieht den schmerzvollen und mühsamen Aufarbeitungsprozess einer Frau nach, die von ihrem Vater missbraucht wurde
»Es ist doch gar nichts passiert.« Diese Floskel des Vaters von Tina Reuther wirkte viele Jahre wie ein mächtiges Schloss, das die Erinnerung an die grausame Seite ihrer Kindheit im Unterbewusstsein verbarg. »Ich wollte unbedingt eine heile Familie«, erklärt sie ihr Schweigen und Schönreden, obwohl sich der Vater an ihr verging und die Mutter beim leisesten Hinweis auf das Ungeheuerliche mit Selbstmord drohte. Nirgendland, Helen Simons ausgezeichneter Dokumentarfilm, vollzieht behutsam und geduldig noch einmal den schmerzenden Prozess nach, in dem die so vital wirkende Frau genötigt war, sich der Tragödie ihrer Familie zu stellen. Wie lässt sich mit dokumentarischen Mitteln erzählen, was sexueller Missbrauch anrichtet, ohne die in paradoxe Abwehr- und Überlebenstricks verstrickten Opfer ein weiteres Mal zu demütigen?
Helen Simons Film, ihre Abschlussarbeit an der Münchner Filmhochschule, konzentriert sich auf die Stärke und Wahrhaftigkeit der Frau vor der Kamera, die Zeit braucht, um allmählich und mit heftigen Gefühlsaufwallungen darüber zu reflektieren, was die Taten und deren Verheimlichung anrichteten. Zeit und Raum, den Horror zu ermessen, ermöglichen ausgedehnte Zwischenschnitte mit einer Soundcollage, die eine Spur zu genre-betont mit Thrilleranklängen spielt. Die Kamera fährt auf Wohlstandsvillen zu, bleibt vor einem dunklen Zimmerwinkel stehen und gleitet durch undurchsichtiges Waldgestrüpp: Alltagsorte, die Tatorte sein könnten.
Schicht um Schicht deckt Helen Simons mutige Protagonistin die routinierten Missbrauchsmethoden im Milieu einer wohlsituierten bayerischen Familie auf. Die bunten Bilder ihrer Fotoalben spiegeln gespielte Harmlosigkeit und sind doch »wahr«. Anschaulich und scharfsichtig schildert Tina Reuther anhand dieser Bilder die abgespaltenen Seiten ihres kindlichen Selbst, das Scham, Ekel und Verzweiflung vergessen wollte. »Ich habe mir selbst geglaubt«, beschreibt sie ihren Hang zur Verdrängung, ihre paradoxe Treue zur kaputten Familie.
Ihrer inneren Blockade rechnet sie auch zu, dass sie – Jahre später als alleinerziehende Mutter viel beschäftigt – ihre eigene kleine Tochter bei den Großeltern übernachten ließ und nicht auf die Idee kam, sie vor den Übergriffen des Großvaters schützen zu müssen. Nirgendland fasst die scheinbare Fühllosigkeit aus Not in ein Sprachbild.
Die Tochter Floh suchte andere Fluchtmöglichkeiten. Sie tauchte im Münchner Punk- und Suchtmilieu unter und besorgte sich Geld als Prostituierte, »weil sie meinte, das könne sie ja«, wie eine Freundin resümiert. Fotoautomat-Aufnahmen zeigen sie in immer neuen Outfits, Frisuren und Mimiken. Ein Clown mit zerschnittenen Armen sei die junge Frau gewesen. Erst als der Onkel ihre kleine Cousine ebenfalls beim Großvater übernachten ließ, brach die Panzerung. Tina und Floh brauchten weitere zwei Jahre, bis sie den Täter anzeigten, doch der wurde freigesprochen. Heute quält sich Tina mit der Wucht ihres Schuldgefühls, für den Selbstmord ihrer Tochter verantwortlich zu sein.