Es schwindelt einen, wenn man hinabschaut

»M – Eine Stadt sucht einen Mörder« © Volker Beushausen

Am 1. Dezember 1967 berichtete "France Soir" ausführlich über den Prozess gegen den Kindermörder Jürgen Bartsch, der wenige Tage zuvor im Landgericht Wuppertal begonnen hatte. Die französische Tageszeitung widmete einem Randaspekt der Verhandlung besondere Aufmerksamkeit. Aus Enttäuschung darüber, dass in Deutschland die Todesstrafe abgeschafft worden war, schlossen sich einige aufrechte Bürger in Gelsenkirchen zu einem Geheimbund zusammen, der sich "Operation Nemesis" nannte und die Tötung oder doch zumindest Kastration von Sexualstraftätern zum Ziel setzte. Im Gegensatz zu den deutschen Berichterstattern war dem französischen Reporter augenblicklich die Parallelen zu Fritz Langs »M« aufgefallen.

Seit er im Mai 1931 Premiere feierte, werden Langs erstem Tonfilm zahlreiche, keineswegs nur filmhistorische Zuständigkeiten angetragen. Er sollte düstere Hellsicht beweisen, hat sich in eine Art grundlegenden, zeitlosen Befund deutscher Seelenverhältnisse verwandelt, scheint zuverlässig anwendbar auf ihm vorausgegangene und nachfolgende Kapitel der Zeitgeschichte. Mit seinem ursprünglichen Titel »Mörder unter uns« fühlten sich die Nationalsozialisten gemeint. Eines der Parteimitglieder soll, zumindest der Legende nach, dem Regisseur den Zutritt zum Studio verweigert haben, ließ sich dann aber beschwichtigen, als es hörte, dass es tatsächlich um einen Sexualmörder ginge.

Die anscheinende Zeitlosigkeit des Films ist indes einer akribisch recherchierten Aktualität geschuldet. Nicht nur hatte sich Lang ausführlich mit den spektakulären Kriminalfällen seiner Epoche beschäftigt, den Massenmorden von Fritz Haarmann und Peter Kürten, dem "Vampir von Düsseldorf", sowie den ungeklärten Mädchenmorden von Breslau. Er unternahm auch auch monatelange Feldforschungen bei der Polizei und in psychiatrischen Anstalten. Er trieb es weit mit der Authentizität. Angeblich wurden 25 Statisten noch während der Dreharbeiten verhaftet. »M« markiert einen Wendepunkt in Langs Werk: Während er sich im Jahrzehnt zuvor als Visionär empfohlen hatte, wurde er nun zu einem unerbittlichen Zeitgenossen. Die Weimarer Republik zeigt der gebürtige Wiener als eine Welt, in der die Mechanik des Verderbens geölt wird von Furcht und Gehorsam. Das Verbrechen dient ihm als Metapher eines noch größeren Verhängnisses.

Vor einigen Tagen sah ich eine Bühnenfassung des Films, die Tankred Schleinstock und Markus Kopf für das Westfälische Landestheater erarbeitet haben.

Die Premiere fand bereits im Dezember in Castrop Rauxel statt, die Inszenierung läuft noch bis zum Oktober, die nächste Aufführung findet in der Stadthalle Rheine statt: am 14. April, an dem passenderweise auch Gordian Mauggs Film über Langs Arbeit an »M« in unseren Kinos anläuft. Ich sah das Stück im Stadttheater meines Geburtsortes Herford (dass in diesem Text so viele Städtenamen aus NRW vorkommen, ist ein hoffentlich unbezeichnender Zufall). Ich hatte es seit Jahrzehnten nicht mehr besucht, es war eine merkwürdige Rückkehr für mich, dort nun inmitten eines Saales voller pflichtbewusster Abonnenten zu sitzen. Schwer zu sagen, wie viele den Film kannten, dem Drama auf der Bühne folgten sie jedenfalls leidlich gebannt.

Markus Kopfs Inszenierung gehorcht keinem Aktualisierungszwang. In den Kostümen bildet sich ein Jahrhundert biederer Schäbigkeit ab. Manfred Kaderk hat ein Einheitsbühnenbild entworfen, das zwar Langs gleichsam architektonischem Blick auf die Gesellschaft (deren Fundament stets eine höhlenartige Unterwelt ist) nicht einzuholen vermag, aber für seine Parallelmontage zwischen den zwei Gruppen, die auf Mörderjagd gehen, Polizei und Ringvereine, bisweilen ein griffiges Äquivalent findet. Die Ikonografie des Films lässt sich in diesem Raum hinreichend verdichten. Der Kinderreim, der im Film eingangs erklingt ("Warte, warte noch ein Weilchen..."), "das verdammte Mörderlied" also, prangt als Wand-Graffiti im Zentrum des Bühnenbilds. Ein Verweis auf die Zeichenhaftigkeit der modernen Welt, die Lang in seinen Filmen dechiffriert? Anfangs ist die Bühne leer, dann rollt ein Ball auf sie: ein atmosphärisch eindrücklicher Auftakt, der bald einer drangvollen Geschäftigkeit weichen muss. Das achtköpfige Ensemble verkörpert mehrere Rollen, was die Verwandtschaft von Polizei und Unterwelt unterstreicht – die Gangsterkneipen und das Kommissariat werden nur dadurch unterschieden, dass in letzterem Neonröhren angeschaltet werden.

Die Bühnenfassung greift nicht nur ausgiebig auf Drehbuchdialoge zurück – die übrigens ja nicht nur von Lang stammen; der Beitrag der verfemten Thea von Harbou, auf deren Konto das bemerkenswert selbstanalytische Plädoyer des gehetzten Mörders vor dem Tribunal der Gangster geht, wird vom Programmheft unterschlagen. Die Darsteller treffen streckenweise präzise den Mutterwitz der Ganoven (Lang hat sie ja mit Erzkomödianten wie Paul Kemp und Theo Lingen besetzt), die ihre Geschäfte durch Polizeirazzien bedroht sehen. Die Dramaturgie bedient sich auch noch anderer Elemente. Es ertönen autoritäre Stimmen aus dem Verborgenen wie in Langs »Mabuse«-Filmen. Einmal ist ein "Kikeriki" zu hören, das geradewegs aus »Der Blaue Engel« stammt. Der entsetzlich anschauliche Bericht des Gerichtsmediziners wiederum geht auf Michael Farins rissige Hörspielfassung von »M« zurück. Durch die Handlung führt ein Conferencier, was an eine Revue erinnert, die populärste Bühnengattung der Weimarer Zeit. Punktuell spricht er auch Regieanweisungen aus dem Drehbuch. Zuweilen findet eine merkwürdige Phasenverschiebung zwischen Wort und Handeln statt: als seien die Taten nicht wirklich greifbar. Einmal, als er einen Verdächtigen bedrängt, bewegt sich der Mob in Zeitlupe.

Dessen Dynamik steht im Zentrum der Inszenierung. Die Triebhaftigkeit und Ungeduld der sich zusammenrottenden Masse gibt ihren Rhythmus vor. Die Angstpsychose, der Blutrausch der verbrecherischen Bürgerwehr sind ihr wesentlicher Antrieb. Der gesuchte Mörder tritt nicht so stark hervor wie bei Lang (welcher Darsteller könnte schließlich mit Peter Lorre konkurrieren?), ein Opfer ist er aber natürlich auch hier. Die moralisch-atmosphärischen Räume, die Langs Inszenierung eröffnet (die Stillleben des von den Gangstern verwüsteten Bürohauses, die Verblüffung des von der Polizei überraschten Einbrechers und später seiner Kollegen beim Prozess), haben auf der Bühne keine so beklemmende Wirkung. Lang verstand seinen Film als Warnruf. Das Fazit "Wir müssen eben besser auf unsere Kinder aufpassen.", half »M« damals, die Zensurschleuse ohne Beanstandung zu passiere. Heute klingt es reichlich altbacken. Die Inszenierung weiß das. Wenn der Conferencier feststellt, dass jeder Mensch ein Abgrund ist und es einen schwindelt, hinabzusehen, ist damit nicht nur der Kindermörder gemeint. Die Mitglieder der "Operation Nemesi" hätten sich womöglich ebenso ertappt gefühlt.

Meinung zum Thema

Kommentare

Sehr geehrter Herr Midding,
in den 30 Jahren, die ich als Regisseur arbeite,
ist mir eine so kompetente Auseinandersetzung mit einer meiner Inszenierungen noch nicht begegnet.
Ich danke Ihnen: Markus Kopf
www.markuskopf.de

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