Streaming-Tipp: »Freud«

»Freud« (Serie, 2020). © Netflix

»Freud« (Serie, 2020). © Netflix

Sittenbild mit Antisemitismus

In den düsteren Katakomben Wiens wird eine Frau im Stil von Jack The Ripper gemeuchelt. Im Morgengrauen duellieren sich Männer wie im Kostümfilm. Und ein ungarisches Medium stößt das Tor zur Psychoanalyse auf: Der Weg zum Unbewussten, den Marvin Kren in der ersten Koproduktion zwischen dem Streaminganbieter Netflix und dem österreichischen Fernsehsender ORF nachzeichnet, ist ein ziemliches Missverständnis – aber ein unterhaltsames.

In der Spur John Hustons, der in seinem 1962 entstandenen Biopic die mühsame Selbstfindung Sigmund Freuds als Abenteuerfilm erzählte, konzentriert sich der »4 Blocks«-Regisseur auf die von Zweifeln und Rückschlägen gekennzeichnete Frühphase der Psychoanalyse. Der junge Sigmund, ein verkrachter Mediziner, der heiraten will und zu diesem Zweck versucht, eine Existenz als Nervenarzt zu gründen, ist gerade aus Paris zurückgekehrt. Bei Jean Martin Charcot, einem charismatischen Kliniker, hat er gelernt, dass Hysterie – im späten 19. Jahrhundert eine epidemische Modeerscheinung – eine Erkrankung ohne medizinisch diagnostizierbare Ursache sein kann. In den Augen des berühmten Neuroanatomen Theodor Meynert, dessen Student Freud ist, wird diese neumodische Auffassung als Scharlatanerie belächelt. Unterstützung erhält der angehende Seelenforscher lediglich von Josef Breuer, einem erfahrenen Arzt, der auch für die Anwendung der Hypnose offen ist. Breuer wird ihm schließlich von seiner Patientin Berta Pappenheim alias Anna O. berichten – die später als Initialpatientin der Psychoanalyse berühmt werden wird.

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Mit diesen Kernmotiven bewegen Kren und seine beiden Koautoren Stefan Brunner und Benjamin Hessler sich durchaus in traditionellen Bahnen. Psychoanalyse vermochte das zwanzigste Jahrhundert als Geisteswissenschaft allein deswegen zu beeinflussen, weil sie lehrte, dass das Unbewusste kein finsterer Keller ist, in dem irrationale Triebe ihr Unwesen treiben. Das Verdrängte befindet sich an der Oberfläche, verborgen nur durch eine subtile Doppelsinnigkeit oder den überhörten Gleichklang zwischen Worten wie Protestant/Prostituierte. Unerwartet werden die Bilder züchtiger Nonnen mit frivol lachenden Huren blitzlichtartig übereinander geblendet: eine Sternstunde in John Hustons »Freud«-Film, der ansonsten aber kaum erfasst, worum es der Psychoanalyse geht.

Freud hat ausdrücklich betont, zwischen Arzt und Patient gäbe es nur »einen Austausch von Worten«. Kritisch bewertete er daher die Beziehung zwischen Psychoanalyse und Kino. Der Film produziert Bilder. Psychoanalyse funktioniert genau umgekehrt. Freuds Entdeckung basiert gerade auf der »Rückübersetzung von Bildern in Worte«. Aus diesem Grund lehnte Freud lukrative Angebote aus Hollywood bekanntlich ab (eine Geschichte, die rauf und runter erzählt worden ist). G.W. Papsts Film »Geheimnisse einer Seele« von 1926, den sein Schüler Karl Abraham gegen Freuds Proteste mitverantwortete, bebildert diesen Prozess naiv.

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Filmische Darstellungen wie die gediegene britische Miniserie »Freud« von 1984 leiden daran, dass sie die in der Natur der Sache liegende Wortlastigkeit der Psychoanalyse – die ja eine »Talking Cure« ist – allzu wörtlich nehmen. Zu sehen sind meist nur Talking Heads. Das gilt auch für Axel Cortis sehenswerte ORF-Produktion »Der junge Freud« von 1976. Was diesen filmischen Versuchen nahezu völlig abgeht, ist die sinnliche Dimension der Psychoanalyse. Um Leidensdruck, moralischen Zwiespalt und triebhafte Gelüste effektvoll ins Bild zu setzen, mischt Marvin Kren in seiner »Freud«-Serie nun die Essenz der Psychoanalyse nur in homöopathischen Dosen bei. Stattdessen lässt eine Fülle von Erzählsträngen ein groß angelegtes Sittenbild Wiens der Belle Epoque entstehen. Die Serie beleuchtet die Rolle des Militärs, homoerotische Männerbündeleien, die Beziehung Österreichs zu Ungarn und jenen allgegenwärtigen Antisemitismus, dem auch der junge Analytiker als Jude ausgesetzt ist.

Biografisch verbürgte Details wie Freuds vorübergehender Kokainkonsum und eine hinzufabulierte Krimihandlung fügen sich zu einem erzählerischen Geflecht. Etwas geschmälert wird das Sehvergnügen allerdings durch sichtbar angeklebte Bärte bei Rainer Bock als Professor Meynert und die grell in Szene gesetzten Mensurnarben der Offiziere. In einem der stärkeren Momente beseitigt Freud das Symptom des Gendarmen Kiss (Georg Friedrich), der im Krieg auf Befehl eines feigen Vorgesetzten wehrlose Gefangene erschießen musste – und seither den Finger, der den Abzug betätigte, nicht mehr bewegen kann. Er ist hysterisch, obwohl er als Mann keine »ruhelose Gebärmutter« hat (altgriechisch: hysteron). Aus solchen psychoanalysehistorisch relevanten Details macht die Serie leider zu wenig. Deshalb ist es kein Zufall, dass der lebhaft gezeichnete Sündenpfuhl Wiens, dessen Innenräume in atmosphärisches Halbdunkel getaucht sind, mit »Babylon Berlin« verglichen wurde.

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Wenn Freud, von Robert Finster durchaus überzeugend verkörpert, das Medium Fleur Salomé (Ella Rumpf) in hypnotische Trance versetzt und durch ihre übersinnliche Wahrnehmung einen Mörder aufspürt, wird allerdings eine rote Linie überschritten: Kren und seine Koautoren versuchen, Freuds Entdeckung in ein visuelles Spektakel zu verwandeln, doch dabei erscheint Psychoanalyse als Voodoo. Ihr Ansatz ähnelt dem David Cronenbergs, der in seiner Literaturadaption »A Dangerous Method« spürbar machte, wie Psychoanalyse unter die Haut gehen kann. Die Netflix-Serie schießt dabei zuweilen weit übers Ziel hinaus. Unbewusste Konflikte erscheinen wie ein orgiastischer Blutrausch, inszeniert im Stil eines Dario Argento. Dass das Unbewusste strukturiert ist wie eine Sprache – davon haben Kren und seine Koautoren wenig Ahnung. Sie nehmen Psychoanalyse nicht wirklich ernst. »Freud« beschwört, wenn auch durchaus unterhaltsam, eine Comicversion der Freud'schen Seelenkunde.

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