Einer unter Gleichen ?

Zum Bild des Pfarrers im Film
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Das evangelische Pfarrhaus: für Regisseure wie Dreyer und Bergman war es immer ein Bezugspunkt. Heute scheint der Pfarrer wieder besonders interessant zu sein: als Seelsorger im Fernsehen, in düsteren Meisterwerken wie Das weiße Band und There Will Be Blood. Georg Seeßlen über einen unheldischen Helden

Wie wird ein Berufsstand tauglich fürs Kinoheldentum? Einerseits dadurch, dass er zu etwas Außergewöhnlichem befähigt. Als Cop oder Astronautin vielleicht. Andererseits durch eine besondere Repräsentanz, etwas Typisches wie Versicherungsvertreter oder Landärztin. Natürlich unterscheiden sich Filme, die vom Außergewöhnlichen handeln, von jenen, die vom Typischen handeln, in der Form. Von den Stars ganz zu schweigen.
 
Was das anbelangt, gibt es wohl keinen größeren Unterschied als den zwischen katholischen Priestern und protestantischen Pfar­rern im Film. Der eine ist in allem als außergewöhnlich und solitär gezeichnet. Seine Entscheidungen sind einsam, die Liebe ist nur ferne Versuchung und Problem, die Familie ist, was er verlassen musste, in der Beichte aber wird er zum Mitwisser der vielen da draußen. Ein idealer Dramenstoff: Einsamkeit und Konflikt. Der oder die andere dagegen ist ganz Muster: Die Pfarrfamilie ist in allem typisch, in der Idylle und im Grauen, in der Heilung und in der Krankheit. Der protestantische Pfarrer ist nicht solitär, sondern einer unter Gleichen, sein Wesen ist das Eingebundensein, und so einsam sein katholischer Amtsbruder sein kann, so schwer ist es für den Protestanten, auch nur einmal für sich zu sein. So ringt der eine mit der Welt und der andere mit sich selbst.
 
Dabei ist dieses Ideal der (deutschen) Pfarrfamilie, das sich nach der Reformation als »offenes« Leben zur Gemeinde hin entwickelte und das bis in die Medienträume der populären Kultur mit ihren Pfarrerserien reicht, vor allem auch ein Symp­tom der Krise. Hier sollte alles vorbildlich sein, die Ehe, die Erziehung der Kinder, die Pflege der Nachbarschaft. Wenn sich für den katholischen Pries­ter auf drei Konfliktfeldern das Drama zuspitzt, die sexuelle Versuchung, das Beichtgeheimnis und der Konflikt zwischen Glauben und Politik, dann steckt der protestantische Pfarrer von Anbeginn an in der »familiären« Falle. Seine Konflikte sind daher eher entweder melodramatisch – ein Zerbrechen des Vorbildideals – oder seelisch – ein persönliches Hadern mit dem Glauben und ein »Abfall«, der eine ganz andere Form der Einsamkeit generiert. Und dann ist seine Funktion überaus prekär, denn mehr als eine Erwählung  ist es für ihn ein Akt der Selbstermächtigung oder die Gemeinde, die ihn zu seiner Funktion bestimmt, Irrtum eingeschlossen. Und das alles durchaus kombinierbar mit einer Portion Wahnsinn wie in der Figur aus Charles Laughtons dunklem Märchen The Night of the Hunter (Die Nacht des Jägers, 1955).
 
In einem seinerzeit weit verbreiteten Ratgeberbuch über das Pfarramt schrieb der preußische Generalsuperintendent Büchsel 1861: »Das Pfarrhaus ist das Siegel auf die Predigt, oder es ist die praktische Verkündigung des Evangeliums.« Religiöse und familiäre Praxis sind mithin ein und dasselbe – was sich schön anhört und oft furchtbar endet. Wort und Leben sollen hier eine »reine« Einheit bilden. Zwar ist der Pfarrhausfilm eher ein Sub-Subgenre. Aber es ist auch in anderen Filmen um das Pfarramt diese Verwurzelung in der Gemeinde, in der Architektur von Stadt und Land, die das Grundmotiv bestimmt: Der katholische Priester ist ganz er selbst in der Fremde, der protestantische Pfarrer dagegen gerät sozusagen automatisch in die Krise, wenn er die Verwurzelung in der Gemeinde verliert. 
 
Jeder Betrug, aber auch jede Neurose wird öffentlich und gewaltig. Während es auf der einen Seite einen detektivisch begabten Pfarrer Brown gibt, tendiert auf der anderen Seite das Pfarrhaus dazu, zum Tatort zu werden, nicht nur bei Agatha Christies Vikar Leonard Clement und seiner Frau, deren Liebenswürdigkeit durch eine gewisse Weltfremdheit grundiert ist. Es entstand aus der heimeligen Idylle ein unheimlicher Ort.
 
Das Leben im Pfarrhaus ist besonders für die Kinder kein Vergnügen. So sprechen die Erziehungsratgeber (die protestantische Pfarrer offenbar benötigten) im 18. und 19. Jahrhundert von der Notwendigkeit des »kühlen Strafens« der Kinder, so als habe man so viel Angst vor der sadistischen Hitze der Erzieher wie vor dem Aufbegehren der Erzogenen. Aber es gibt spätestens im 19. Jahrhundert eine scharfe Spaltung zwischen dem liberalen und dem konservativen Ideal der Pfarrfamilie, und dieser Riss geht oft genug nicht nur durch die Familien, sondern auch durch die einzelnen Seelen. 
 
Vor allem in den skandinavischen Kinematografien gibt es den protestantischen Pfarrer als Zentrum eines psychologisch-theologischen Dramas. Hier spielt nicht unbedingt die Familie die Hauptrolle, sondern es geht vor allem um die individuelle Pein des Pfarrers. Während der katholische Priester im Film häufig an der Welt scheitert, aber im Glauben triumphiert, verhält es sich hier ganz anders. Der Held, bei Dreyer oder bei Bergman, verzweifelt an seinem Glauben: Ingmar Bergman, selber Sohn eines Pfarrers und streng religiös erzogen, drehte mit Licht im Winter (Nattvardsgästerna, 1962) das desillusionierte Porträt des protestantischen Landpfarrers, der seinen Glauben verloren hat, weil Gott »nicht antwortet«. Denn »Gott ist das Schweigen«. So scheint die Einheit von Person, Familie, Gesellschaft, Glauben und Politik von Anbeginn verloren. In Bergmans Filmen begegnen sich Protestantismus und Existenzialismus. Es ist ein Abschied, der nicht gelingt.
 
Ein schweigender Gott aber lässt das Dämonische nur um so drastischer hervortreten. In einer »katholischen« Mythologie erscheint das Böse aus der Hölle; in der Form des protes­tantischen Horrors dagegen kommt das Böse aus den Menschen, ja, es hat eine dialektische Beziehung zur Gemeinde selbst. Und so ist ein wiederkehrendes Thema, wie die strenge protestantische Gemeinde sich selbst und anderen zur Hölle wird, als Instrument der Hexenverfolgung wie in Der scharlachrote Buchstabe, als kapitalistisch-religiöse Antriebskraft der ewigen Suche nach dem Monstrum, wie in Moby Dick. In der Verzweiflung der Protagonisten wird sichtbar, was als »die dunkle Seite Gottes« gilt. Seine Bestimmung des Menschen zum Bösen.
 
Und eben in der »Monstrosität« zerbricht auch die Konstruktion des Pfarrhauses. In Carl Theodor Dreyers Tag der Rache (Dies Irae, 1943) wird eine alte Frau in einem dänischen Ort des 17. Jahrhunderts der Hexerei bezich­tigt. Anne, die junge Frau des Pfarrers Absalon, versteckt die flüchtige Alte. Aber sie wird entdeckt und gefoltert; die Tortur leitet Absalon. Anne verliebt sich indessen in den heimgekehrten Sohn des Pfarrers, was nach etlichen unglücklichen Wendungen dazu führt, dass sie selbst der Hexerei angeklagt wird. Auch hier ist das Pfarrhaus ein Tatort. Auch hier gelingt es nicht, durch verordnete Kälte die Hitze der Sinne zu kontrollieren. Es ist die Urkatastrophe des Pfarrhauses, die sich immer wiederholen wird. 
 
Zwanzig Jahre vorher hatte Dreyer das Motiv von der emotionalen Verwicklung im Pfarrhaus noch heiterer behandelt. In Die Pas­torenwitwe (Prästänkan, 1920) soll ein junger Pfarrer die ältere Witwe seines Vorgängers heiraten, obwohl er mit einer anderen, die er liebt, verlobt ist. Es gibt hier einen menschlichen Ausweg aus dem Konflikt, aber wie in Dies Irae sehen wir eine religiöse Herrschaft, die wahrhaft unbarmherzig den ganzen Menschen erfasst.
 
Dreyer – auch er in einer streng religiösen Familie aufgewachsen – bringt in Das Wort (Ordet, 1954) die beiden Extreme noch einmal zusammen. Da ist eine kaputte Weltlichkeit, die Religion zum sozialen Dogma macht: in der Geschichte von Liebenden, die zueinander nicht kommen sollen, weil sie verschiedenen Konfessionen angehören (wie sie auch Edgar Reitz in einer Nebenhandlung von Die andere Heimat wieder aufnimmt). Und da steckt eine »kaputte« Spiritualität in der Geschichte vom Mann, der über seinem Religionsstudium verrückt wird. 
 
Das Pfarrhaus und die Gemeinde sind familiäre und soziale Orte, die so lange unter Druck stehen, bis sie implodieren und die Dämonen entlassen, die in eben dieser Doppelgestalt auftreten, in der öffentlichen Unterdrückung und im inneren Wahn. Von Robert Mitchum als »Hunter«, der die Kinder in den Wald verfolgt, führt die Spur über die Hexenverfolger, die ihrer sexuellen und emotionalen Frustration in die symbolische Gewalt entkommen wollen, bis zum Pfarrer als gespaltener Persönlichkeit, wie – in der schnöden Wirklichkeit – jener Pfarrer aus Beienrode, der im Jahr 1998 wegen Totschlags an seiner Ehefrau verurteilt wurde, die er zuvor mit einer anderen Pfarrerin betrogen hatte. Vor Gericht berief er sich auf Hiob und die Prädestination. Nicht er, sondern Gott sei schuld an seinem Verhalten, bemerkte er in seinem Plädoyer. Das ZDF produziert schließlich einen Film, der den Titel »Hiob« haben sollte. Später wurde er in »Mord im Haus des Herrn« umbenannt. Und es geht darin um »die dunkle Seite Gottes«, aber auch um die Kälte – nicht nur des Täters, der alle Schuld von sich weist. Kälte, das ist nicht nur das Schlüsselwort zu allen Filmen über »böse Pfarrer«, es begleitet, bis hin zu Michael Hanekes ­Wei­s­­­sem Band nahezu alle Pfarrhausfilme, ebenso wie die nahezu grenzenlose Fähigkeit zu Aufspaltung und Verdrängung.
 
So ist in Anders Thomas Jensens Adams Äpfel (2005) der Pfarrer Ivan, der sich mit unkonventionellen Mitteln um Resozialisierung kümmert, unfähig, in seinem eigenen Leid – das vom Missbrauch in der Kindheit über den Selbstmord seiner Frau bis zum Gehirntumor reicht – etwas anderes als Versuchungen des Teufels zu sehen. Sein Rückweg zum zwischenzeitlich verlorenen Glauben führt über bizarre Wendungen und viele biblische Zitate. Und endlich einmal wird da einer nicht in den Tod, sondern ins Leben geschossen.
 
Die Vermenschlichung der Gestalt scheint in den neueren Beiträgen zum Genre des skandinavischen Pfarrerfilms fortgeschritten. Er ist weder ein Monster noch ein Heiliger in Filmen wie Post für Pastor Jakob (2009, Klaus Härö), der Geschichte eines blinden Pfarrers und seiner Haushälterin, eine Geschichte von Schuld und vom Sterben. Der Augenblick der Gnade, in den Filmen des transzendentalen Stils von Robert Bresson bis Lars von Trier noch an den Exzess des Leidens gebunden, ereignet sich hier sanfter. In Annette K. Olesens In deinen Händen (Forbrydelser, 2004) geht der Konflikt einer Gefängnispfarrerin, die vor der Frage steht, ob sie ein behindertes Kind zur Welt bringen soll, nicht so gut aus. Immer, so scheint es, geht es in diesen Filmen um die dunklen Seiten Gottes oder um den unlösbaren Konflikt zwischen Glauben und freier Entscheidung. 
 
Mittlerweile, wir können offensichtlich nicht anders, sind auch die Repräsentationen von Pfarrern im Film statistisch ausgewertet. Besonders überraschend sind die Ergebnisse nicht: Es gibt bislang, so haben die Forscher der Abteilung für Christliche Publizistik an der Universität Erlangen-Nürnberg herausgefunden, mehr als 250 Filme mit dem Thema. Eine andere Untersuchung ergibt, dass 70 Prozent aller Pfarrerrollen katholisch besetzt sind, und dass Komödie und Horrorfilm die Genres für die katholische, Dramen und im engeren Sinn Problemfilme die für die protestantische Besetzung sind. Der Trend freilich, verstärkt durch das Fernsehen, geht zum protes­tantischen Pfarrhaus, und an die Stelle von emotionaler Kälte, Implosionsgewalt und Scheitern an der Vorbildaufgabe tritt immer mehr, wie es in der Erlangener Studie heißt, der »Pfarrer als Mitmensch und Sympathieträger, dessen Religiösität sich im Alltag der praktischen Seelsorge bewährt«. Wenigstens im deutschen Fernsehen kehrt das Pfarrhaus zum Ideal zurück, das im 18. Jahrhundert so verbreitet war, als Vorbild für Konfliktlösungen, Verwurzelung und Verbindung von Weltklugheit und Glaubensgewissheit (ohne große Geste). 
 
In Gestalt von Robert Atzorn wurde der evangelische Pfarrer in der Serie »Oh Gott, Herr Pfarrer« (1988) erstmals zum guten Freund und imaginären Seelsorger (die 13 Folgen erzielten damals eine Zuschauerquote von 40 Prozent). Zu den Tricks der Serie gehörte es, Predigtteile in die Handlung einzubauen. So wiederholte sich zwischen Sender und Empfänger der Frohen Botschaft die Einheit von Leben und Wort. Der Pfarrerfilm wurde danach mit »Pfarrerin Lenau« etwa fortgesetzt; noch 2012 kommt »Der Hafenpastor« Jan Fedder zu neuem menschlichen Glanz, als er einer Frau aus Togo Kirchenasyl gewährt und sich dabei mit einer Kirchenrätin auseinandersetzt, die alles verkörpern muss, was man so an protestantischen Haltungen nicht mag. Ein Dorfpfarrer in der norddeutschen Provinz und eine Ruhrgebietsfrau werden zum Traumpaar in »Butter bei die Fische« und »Nägel mit Köppen«. Menschliche Wärme, Toleranz und Humor ergeben ein neues Image des protestantischen Pfarrhauses. Dass das auch schiefgehen kann, zeigt sich manchmal im wirklichen Medienleben, in der Gestalt von Pfarrer Jürgen Fliege etwa, der ein besonders freundliches Gesicht des Protestantismus in den Medien abgab, bevor ihn Geschäftstüchtigkeit und Obskurantismus in einem anderen Licht erscheinen ließen. Als müsste  stets und überall das Doppelgesicht der Figur erscheinen, das Vorbild und das Monstrum. 
 
Diese Doppelgesichtigkeit spiegelt sich auch im amerikanischen Genrefilm, wo der protestantische Pfarrer in den unterschiedlichsten Gestalten präsent ist, wenngleich selten als Zentrum theologischer Probleme. Als lakonischer Protagonist der Zivilisierung der Kleinstadt im Wilden Westen ebenso wie als bösartiger Scharlatan, Hassprediger und Betrüger oder als einer, der die widersprüchlichen Impulse der amerikanischen Gesellschaft zueinander führt, wie in Jacques Tourneurs Stars in My Crown. Da ist er, in Gestalt von Joel McCrea, der Mann in der Gemeinde, der die Wunden des Bürgerkriegs heilen und die Konflikte zwischen Fortschritt und Beharrung lösen kann und der Gewalt Einhalt gebietet (als einer, der selber durchaus mit der Waffe umgehen kann). Es ist einer der Versuche, den Prediger oder Pastor der Gemeinde im Western in einen lakonischen stillen Helden zu wandeln, der durch sein Beispiel, aber ohne großen Führungsanspruch beim Werden der neuen Gesellschaft hilft. Und er ist nahe an der lutherischen Vorstellung vom Priestertum aller Gläubigen; es sind nur die Gemeinde und die eigene Empfindung, die einen solchen Prediger zum Ersten an der Grenze macht. Sehr viel zwiespältiger werden diese Figur und ihre Schlüsselrolle in der Sozialgeschichte des Landes ein halbes Jahrhundert später in Filmen wie There Will Be Blood von Paul Anderson gesehen, wo der Prediger zugleich Gegenspieler und Spiegelbild des rücksichtslosen Pionierkapitalisten ist. 
 
Die Geschichte des protestantischen Pfarrers im Film ist selbst die Geschichte einer Spaltung. Auf der einen Seite ist es seine Vermenschlichung, die, gewiss, auch Spiegelung eines gesellschaftlichen Funktionswandels ist. Diese Vermenschlichung beginnt mit dem Verlust der »sekundären« Funktionen, in der Pädagogik, in der Verwaltung, mit dem Ende der theologischen Verbindlichkeiten und der letzten Reste von »Zwangskirche«. Aber so sehr er oder sie fehlbarer Mensch werden, so sehr scheinen Pfarrer und Pfarrerin doch auch Modell und erneut, wenn auch in der leichten und medialisierten Form, Vorbild. Ein Mensch wie jeder andere – und doch einer, auf den die Blicke gerichtet sind. »Es gibt nichts anderes im Leben als die Liebe, nichts«, heißt es in Olivier Assayas’ Les Destinées sentimentales (2000). Das, vielleicht, wäre die Erlösung der Figur von sich selbst. Von alledem, wozu der Pfarrer bei Dreyer, Bergman oder Anderson verdammt war, worüber er sich anderswo durch die Passion arbeiten musste, was schließlich als Schatten noch über der Serienware liegt: Vom Rückfall in die Kälte, von der Verwandlung des Pfarrhauses in den Tatort, von der dunklen Seite Gottes, die vielleicht nur ein Seelenunheil dieses überforderten und sich selbst überfordernden Menschen ist.

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