Weimar nach Athen tragen

Als ich in Griechenland ankam, wurde ich prompt mit den Albträumen der Vergangenheit konfrontiert. So lautete zumindest der Untertitel einer Filmreihe des 38. Panoramas, die dem Weimarer Kino gewidmet war. Die erste Veranstaltung, die ich dort besuchte, war eine Podiumsdiskussion zu diesem Thema. Sie war hochkarätig besetzt und gut besucht. Aber zunächst traute ich meinen Augen nicht.

Weimar hatte es sogar auf das Festivalplakat geschafft. Anfangs dachte ich, die im Goethe Institut ausliegenden Flyer und ausgehängten Poster würden sich nur auf diese Veranstaltung beziehen. Aber Ninos Mikelides hatte es zum diesjährigen Logo erkoren. Ohnehin gab mir das Motiv Rätsel auf, denn es stammte aus keinem der gezeigten Filme. Einen Verdacht hatte ich allerdings schon, den Rainer Rother mir später bestätigte: Es handelt sich um ein eher unbekanntes Szenenfoto aus »Metropolis«. Ganz ohne Fritz Langs retrofuturistische Parabel war Weimar also auch hier nicht zu haben.

Rainer saß als ehemaliger Leiter der Deutschen Kinemathek auf dem Podium zusammen mit dem Festivalleiter und zwei illustren griechischen Diskutanten, einem beschlagenen Historiker sowie einem cinephilen Europa-Abgeordneten. Über das Kino der Zwischenkriegszeit wurde nicht nur als Entfaltung schöpferischer Freiheit und Innovation debattiert, sondern vor allem als Spiegel einer traumatisierten Gesellschaft, die Erschütterungen und Krisen ausgesetzt war. Ein Leitmotiv der Diskussion war die Ungleichzeitigkeit von wissenschaftlichem und künstlerischem Fortschritt und den Anfechtungen der jungen Demokratie. Es galt, zahlreiche Strömungen zu sortieren. Louise Brooks wurde als Lulu in Pabst' »Die Büchse der Pandora« als frühe feministische Heldin (in Personalunion mit der Femme Fatale) aufgerufen. Die Filmoperette nahm unmittelbar Bezug auf zeitgenössische Probleme wie Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot; es nimmt nicht wunder, dass die Nationalsozialisten später sehr mit ihr haderten. Die Faszination des Bösen brach sich Bahn, zumal in der emblematischen Figur des Dr. Mabuse (wiederum eine Personalunion: von Psychiater, Gangsterboss und Hypnotiseur). Sie ist intelligent und reagiert schnell, sie bewirkt, wie Rainer anmerkte, Strukturveränderungen. Daraus ließen sich mannigfache Analogien ziehen - zuerst zur Krise Griechenlands in den 2010er Jahren und dann in Windeseile zur weltweiten Schwächung der Demokratien. Von Caligari zu Trump: Der deutschdämonische Expressionismus ist wieder brandaktuell.

Das Publikum ging lebhaft mit. Das Bedauern war groß, dass die Kunst die Weimarer Gesellschaft nicht stärker beeinflussen konnte. Wie es scheint, wird diese Epoche meist nur von ihrem Ende her gedacht. Aber ihre Aufbrüche schienen im Dialog zwischen Podium und Plenum ebenfalls auf, etwa die selbstbestimmten Frauenfiguren im Kino, die reale Tendenzen der Zeit reflektierten. Gibt es in der Filmgeschichte überhaupt noch eine andere Ära, auf die sich so zuverlässig derart viel projizieren lässt? Zugleich war aber auch der Wunsch stark, das geläufige Bild von ihr zu öffnen und den Kanon zu erweitern. Die Filmauswahl in Athen trug wenig dazu bei, sie zielte darauf, dem heutigen Publikum die Klassiker wieder nahezubringen. Das scheint mir weniger einer mangelnden Entdeckerfreude geschuldet, sondern Ninos Mikelides' Wunsch, der Filmgeschichte noch vielfacher Raum im Programm zu geben.

Der Festivalleiter ist ein altgedienter Cinephiler. Ein ziemlich rüstiger überdies: Der in Griechenland hoch geschätzte Filmjournalist ist angeblich bereits weit über 80. Ich habe ihn vor geraumer Zeit einmal in Paris kennengelernt. Das war während eines gemeinsamen Interviews mit Abdellatif Kechiche zu »Couscous mit Fisch«. Der Regisseur erzählte, jemand habe ihn kurz zuvor auf die Ähnlichkeit seines Films mit Gogols »Der Mantel« hingewiesen – es gebe da wohl eine Verfilmung aus Italien? Genau, preschte ich keck vor, von Alessandro Blasetti! Nein, korrigierte mich der griechische Kollege diskret, die stammt von Alberto Lattuada. Hat mich schwer beeindruckt seinerzeit.

Mithin war ich neugierig, weshalb er die vielen kleinen Retrospektiven ins Programm gehoben hatte. Im Vorjahr zeigte er eine Reihe mit revisionistischen Western aus den 60ern, an die er in diesem Jahr anschließen wollte mit Beispielen aus dem New Hollywood. Außerdem galt es, einige 100. Geburtstage zu feiern: von Robert Mulligan (»Wer die Nachtigall stört«: »Ich hätte gern mehr von ihm gezeigt, hatte aber nur Platz für einen Film – und da nimmt man natürlich »Wer die Nachtigall stört«.«), von Georges Delerue (nicht nur als Hauskomponist der Nouvelle Vague, sondern darüber hinaus mit »Liebende Frauen«, »Il Conformista« und »Platoon« präsent) und schließlich den der Fipresci (seine Moderation war eine hübsche Archäologie – früher gab es noch keine Jurys, da versammelte man einfach alle Mitglieder des Weltkritikerverbandes und ließ sie gemeinsam abstimmen). Unbedingt wollte Ninos in diesem Jahr auch an den Jahrestag des Abwurfs der Bombe auf Hiroshima erinnern. Er hatte eine schöne Auswahl getroffen, von Kaneto Shindo über Alain Resnais bis Shohei Imamura. Die hätte ich gern besucht – Japanisch mit griechischen Untertiteln, das wäre spannend gewesen –, aber die Reihe lief parallel zum Wettbewerb.

Um den Wettbewerb sponn er überdies ein dichtes Netz von Hommagen, zum einen an die Jurymitglieder Jeanine Meerapfel und den Dokumentarfilmer Nick Broomfield sowie an zwei griechische Filmkünstler, die Editorin Ioanna Spiliopoulou und den Kameramann Andreas Sinanos. Meerapfel berichtete mir zwischen zwei Filmen von der Zusammenarbeit mit ihm bei »Annas Sommer«: Er war ein echter Schüler ihres Jurykollegen Giorgos Arvanitis, für den die Komposition an erster Stelle stand. Die Überschneidung der beiden Hommagen war natürlich kein Zufall, sondern ein Beispiel für Ninos kundig gewobenes Netz. Die Filmgeschichte durfte sich Schritt auf Schritt begegnen in seinem cinephilen Panorama.

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt