Terror des Buchstäblichen

»Don't worry, weglaufen geht nicht« (2018). © Amazon Studios

Rasch nach Beginn der Filmfestspiele verwandelt sich der Potsdamer Platz von einer Grußmeile zum Börsenparkett. Es wird über Kursnotierungen spekuliert, werden Empfehlungen und Gewinnwarnungen ausgesprochen. Die Angst, Entscheidendes zu verpassen, ist groß, aber in diesem Jahr (seriös kann ich nur über den Wettbewerb sprechen) erneut ziemlich unbegründet. Um so mehr freute sich ein Bekannter, als ich ihm »Don't worry, he won't get far on foot« nahelegte.

Über Gus Van Sant waren in den letzten Jahren ja eher gemischte Nachrichten zu vermelden. Nein, eigentlich war das immer so, was übrigens den Reiz seiner Filmographie ausmacht. Sein neuer Film sei wiederum höchst erfreulich, behauptete ich, worauf der Bekannte augenblicklich schlussfolgerte: »Und natürlich hat er einen herausragenden Hauptdarsteller!« Nein, erwiderte ich, zum Glück nicht, dafür aber einen sehr guten.

Die »Ruderman Family Foundation« ist da anderer Ansicht. Die Stiftung setzt sich dafür ein, dass die Rollen von Körperbehinderten tatsächlich auch von solchen gespielt werden. Aus ihrer Perspektive ist Van Sants Entscheidung, Joaquin Phoenix den Part des querschnittsgelähmten Cartoonisten John Callahan zu geben, ein fataler Fehler. 2018, in Zeiten, in denen die Gesellschaft weiße Schauspieler längst nicht mehr in asiatischen, schwarzen oder hispanischen Rollen akzeptiert, sei dies anstößig und beleidigend. Das klingt einleuchtend oder erscheint doch zumindest politisch korrekt, wirft allerdings auch die Frage auf, wer Callahan denn vor seinem Unfall hätte spielen dürfen?

Ich hätte gern gewusst, wie der 2010 verstorbene Cartoonist, dazu gestanden hätte, wenn nun - postum in seinem Namen und generell in dem von Querschnittsgelähmten - Darstellungsverbote erlassen werden. Es ist nicht auszuschließen, dass er darüber seinen einfallsreich betroffenen Spott ergossen hätte. Die Torheiten politischer Korrektheit entlarvte er mit spitzer Feder. Dem Vernehmen nach hatte er zu Lebzeiten nichts dagegen, dass Robin Williams ihn verkörperte. Es kam anders, was kein Schaden ist: Phoenix' gelassener Darstellung gebricht es an jenem Pathos, das sonst als Oscar-Köder funktioniert. Er spielt Callahan auf Augenhöhe, ohne gefallsüchtige Mimikry und das zynische Kalkül einer Wohltätigkeitsveranstaltung.

Aus dem Vorwurf, den die Stiftung erhebt, spricht der Wunsch nach einer korrekten Repräsentation von gesellschaftlichen Gruppierungen, insbesondere von Minderheiten im Kino. Er verrät eine Gesinnung, die sich zweifellos als zutiefst demokratisch versteht: Sie zielt auf Ermächtigung. Aber Film ist keine demokratische Kunst – oder höchstens in dem Sinne, dass der Regisseur die Regierung und das Team die Opposition darstellt.

Die Position der Stiftung finde ich als Wunsch verständlich, als Vorwurf abscheulich und als Forderung verheerend. Filme werden besetzt aus dem Reservoir verfügbarer Talente. Deshalb muss sich Van Sant nicht dafür rechtfertigen, einen exzellenten Schauspieler verpflichtet zu haben und Phoenix nicht dafür, eine dankbare Rolle angenommen zu haben. ES wäre ein Fortschritt, wenn dieses Reservoir mehr talentierte Schauspieler enthalten würde, die körperlich behindert sind. Darin wären Mr. Ruderman und ich uns gewiss einig. Streiten würden wir uns vermutlich um die Prioritäten. Ich fürchte, für ihn ist nicht das Talent ausschlaggebend. Er denkt als Aktivist, der Schutzzäune errichten will. Mir hingegen ist es lieber, wenn Kunst in offenem, freiem Gelände entsteht.

Eine Aussage seines Statements finde ich in diesem Zusammenhang besonders bezeichnend. Sie unterstellt, dass kein nicht-behinderter Schauspieler authentisch in dieser Rolle sein könne. Darin steckt ein sehr naiver Begriff von Authentizität. Ich finde ihn ebenso kunstfeindlich wie die (glücklicherweise kurze und bisher folgenlose) Debatte, die sich in der anglo-amerikanischen Presse unlängst an der Frage entzündete, ob schwarze britische Schauspieler denn das Recht hätten, ihren schwarzen amerikanischen Kollegen Rollen wegzunehmen.

Wenn ich derlei Argumentationen richtig verstehe, wären nur Betroffene als Experten filmischer Lebensdarstellung legitimiert. Folgen wir dieser Logik in aller Konsequenz, wäre das Gewerk Schauspiel nur der sichtbare Anfang. Die Kreativität müsste fortan in jedem Bereich einem Proporz unterworfen werden, der Geschlecht, Ethnie und weitere identitätsstiftende Merkmale streng respektiert. Ein männlicher Drehbuchautor dürfte dann keine Dialoge mehr für Frauen schreiben, ein weißer Kameramann kein Licht setzen auf einen schwarzen Darsteller. Einer Schauspielerin wäre nicht mehr zuzumuten, dass ein Mann für den Ton, Schnitt oder das Szenenbild verantwortlich zeichnet. Einen Film über die Erfahrungen Geflüchteter dürfte nur ein Schicksalsgenosse inszenieren etc. In diesem reglementierten, überwachten Kino würde das Wesentliche keine Rolle mehr spielen: die Phantasie.

2018 könnte das Jahr werden, in dem wir das Kino in Schutz nehmen müssen gegen wohlmeinende Eiferer. Gewiss, im Filmgeschäft herrscht kein freies Spiel der Kräfte. Ohne Druck wird sich das nicht ändern. Die Forderung nach Quoten ist da eine sehr deutsche, bürokratische Strategie. Aushandlungsprozesse können im Kino anders, eleganter funktionieren. Ich bin davon überzeugt, dass Wandel mit der Durchsetzung von Talent einhergeht.

Dafür sind Gus Van Sant und Joaquin Phoenix übrigens hervorragende Beispiele. Der Regisseur ist ein Pionier des US-amerikanischen Queer Cinema. Er hat seine schwule, subversive Sensibilität zunächst im Independent-Kino und dann im Mainstream heimisch gemacht. Auch Phoenix ist ein Pilotfisch: als der erste Hollywoodstar mit einer Lippen-Gaumen-Spalte (nun ja: als zweiter nach Stacy Keach). Sein Durchbruch hat den Weg geebnet für einen Schauspieler wie Franz Rogowski, der auf dieser Berlinale in zwei Rollen, einer bemerkenswerten und einer wunderschönen, vertreten ist. Er hat dem Wettbewerb Glanzlichter aufgesetzt. Ich jedenfalls möchte den Moment aus »In den Gängen« nicht missen, wo er Sandra Hüller vom Rauswurf aus seinem vorherigen Job erzählt und sich dann verteidigt: »Aber ich bin kein faules Schwein.« (Stellen Sie sich dabei einen sehr verletzbaren Lino Ventura vor.) Und natürlich die Szene in »Transit«, wo er für den kleinen Jungen nuschelnd das Einschlaflied von Hans-Dieter Hüsch singt. Seine Figur verhaspelt sich erst, bekommt den Text dann aber wunderbar hin. Diese Momente sind feine Triumphe der Inklusion, aber vor allem großes Kino.

Meinung zum Thema

Kommentare

Die Rudermans haben wohl das Prinzip der Schauspielerei nicht verstanden: Es ist Simulation, Vortäuschung, nicht Realität. Denkt man den Realismusanspruch an körperliche Identität konsequent zu Ende, dürften z.B. Schwangere nur von Schwangeren, Sterbende nur von Sterbenden und Tote nur von Toten dargestellt werden. Ein Schelm, wer jetzt an Snuff-Filme denkt.

Die Initiative der »Ruderman Family Foundation« kann ich nur befürworten; so sollte beispielsweise die Titelpartie von »La Traviata« ausschließlich von zertifizierten Schwindsüchtigen gesungen werden.

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