Unzeitgemäße Aktualität

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Der Anstecker am Revers ihrer Jacke war mir zunächst gar nicht aufgefallen. Wir schauen uns unser Gegenüber im Alltag ja viel zu selten genau an. Aber auf den zweiten Blick sah ich den Button, den die junge Dame an der Hotelrezeption trug. »Moin, moin Flüchtlinge« war darauf zu lesen.

Die selbstbewusst hanseatische Begrüßungsformel mag zwar schon Gästen aus Süddeutschland reichlich exotisch vorkommen. Und es ist fraglich, ob es syrische Flüchtlinge in ein Hotel der Hilton-Gruppe verschlagen könnte. Aber mir gefiel die lokalstolze Geste der Gastfreundschaft. Ich weiß nicht, ob der Button nun Beleg einer weltoffenen Hauspolitik oder die persönliche Note der ohnehin aufgeweckt wirkenden Rezeptionistin war. So oder so will ich die Geste nicht als Gratismut abtun. Überdies war sie eine treffliche Einstimmung auf den Abend, den ich zwei Häuser weiter im Schauspielhaus verbringen sollte. Auch dort ging es darum, ein Zeichen zu setzen: einen theatralen Beitrag zur Flüchtlingsdebatte, erstaunlicherweise unter Zuhilfenahme eines alten Fellini-Films.

Ich war im Auftrag einer Theaterzeitschrift in Hamburg, um Karin Beiers Bühnenbearbeitung von »Schiff der Träume« zu sehen. Die Zeitschrift hatte bereits eine Rezensentin zur Premiere des Stückes geschickt, mit der ich ein Zwiegespräch per Email über die Inszenierung führen sollte. Der Anfrage bin ich erst nach einigem Zögern gefolgt. Ich sehe es nicht gern, wenn Kunstwerke der Tyrannei der Aktualität unterworfen werden. Das kommt mir wie eine Laune vor. Zwar sehe auch ich, dass unsere Gesellschaft sich überwältigenden Fragestellungen gegenübersieht, auf welche die Künste Antworten geben können. Aber ich bestreite, dass dies eine unbedingte Verpflichtung darstellt. Aktuelle Bezüge sind im Augenblick aber auch so billig zu haben. Gewiss, auch »Pelléas und Mélisande« verhandelt ein Flüchtlingsschicksal, aber das erklärt nicht die melancholische Wucht von Claude Debussys lyrischem Drama. Und wenn ich lese, dass im Bühnenbild von Simon McBurneys aktueller Inszenierung des Stefan-Zweig-Romans »Ungeduld des Herzens« an der Berliner Schaubühne irgendwann ein Flüchtlingsfoto zu sehen ist, finde ich das schlichtweg opportunistisch. Wie viel souveräner geht da Jacques Audiard vor, dessen »Dämonen und Wunder« zwar seit Cannes eine ungeahnte Aktualität zugewachsen scheint, der aber doch ganz andere, weitere moralische Räume eröffnet, als es dem deutschen Feuilleton lieb ist.

Dennoch reizte mich die Frage, ob Fellinis Film derlei Lesarten widersteht. Er war ja fast der Prototyp des Künstlers, der sich jedweder gesellschaftlichen Verantwortung enthoben sieht und sich exklusiv seinem eigenen Universum verpflichtet fühlt. Aus seiner Trauergesellschaft der Verehrer und Weggefährten, die die Urne einer Operndiva auf ihrer letzten Reise durchs Mittelmeer begleitet, sollte, so hatte ich gelesen, in der Bühnenfassung ein Orchester geworden sein, dass seinen Dirigenten verloren hat. Das fand ich schon insofern reizvoll, weil es Assoziationen zu Fellinis »Orchesterprobe« weckt, den man ruhigen Gewissens als Allegorie auf die politischen Verhältnisse im damaligen Italien lesen darf. (Sie sehen, Künstler und ihre Kritiker können sich in ein und demselben Absatz widersprechen.) Und ich hatte mich gerade wieder ausführlich mit dem italienischen Regisseur beschäftigt; für einen Buchbeitrag über das literarische Nachleben unverfilmter Drehbücher.

Allein, zur Premiere Anfang Dezember konnte ich nicht nach Hamburg fahren. Ich erbot mich, Ersatz zu suchen. Wenn kein Kollege, dann könnte es gern auch ein Filmemacher sein, wünschte sich der Redakteur. Tatsächlich war es schwierig jemanden zu finden, der heutzutage noch etwas mit Fellini anfangen kann. Er steht nicht mehr hoch im Kurs. Ich fand niemanden, dessen Phantasie er noch beschäftigte. Am Ende fiel mir Hans-Christoph Blumenberg ein, der in der »Zeit« stets klug über ihn geschrieben hatte. Offenbar hatte er keine Zeit, weshalb mir die Redaktion vorschlug, eine späteren Aufführung zu besuchen. Im Zug las ich also das Drehbuch noch einmal und fragte mich, ob ich ihn in meinem Eintrag über Ozeandampfer (Beware of Eisbergs! vom Anfang Juni) auch hinreichend gewürdigt habe. Ich fürchte, nein. Tatsächlich ist es ein toller Kreuzfahrtfilm. Auf halber Strecke lässt Fellini seinen Erzähler denkwürdige Sentenzen über Seereisen formulieren: nach ein paar Tagen habe man das Gefühl, wer weiß wie lange unterwegs zu sein und die Mitreisenden schon seit ewigen Zeiten zu kennen. Es war mir entfallen (Kunststück, der Film ist 30 Jahre alt), dass später auch Flüchtlinge an Bord kommen. Sie tauchen eines Nachts wie Geister auf, während einige der illustren Passagiere ein Medium befragen. Einer von ihnen entpuppt sich als serbischer Attentäter, der sozusagen kontrafaktisch den Ersten Weltkrieg auslöst. Das Schiff geht unter mit Belcanto-Begleitung; der Erzähler indes bringt sich und ein Nashorn im Rettungsboot in Sicherheit.

Ebenfalls vergessen hatte ich, wie ausführlich Fellini sein eigenes Medium reflektiert. Das war seinerzeit noch nicht so in Mode. Während der Reise werden Filmaufnahmen gemacht und vorgeführt, die dem Untergang geweihte Gesellschaft lässt sich hingebungsvoll von einem Fotografen porträtieren. Da beschlich mich die Furcht, die Bühnenfassung würde ihre Zeitaktualität mit dem Verfertigen von Selfies unter Beweis stellen. Die erspart Karin Beier dem Publikum gnädig. Sie hat ohnehin Anderes im Sinn als Fellini. Dem Drehbuch von ihm und Tonino Guerra folgt sie nur in wenigen dramaturgischen Bewegungen. Auch wenn einige Bühnenmomente ein Äquivalent in der Vorlage haben – die Beschwichtigung der Passagiere, die Ankunft der Flüchtlinge würde ihren Komfort nicht schmälern; der Argwohn, unter ihnen könnten sich Terroristen befinden; schließlich die spontane Komplizenschaft zwischen Passagieren und Flüchtlingen bei Gesang und Tanz –, löst sie sich entschieden von ihr ab.

Dem enthusiastischen Befund meiner Kollegin, der Film sei die Bühnenvorlage der Stunde, mochte ich vorerst nicht beipflichten. In seinem »Schiff der Träume« erweist er sich nicht als politisch wacher Zeitgenosse; das war er zu diesem Zeitpunkt seiner Karriere ja schon längst nicht mehr. Immerhin war Anfang der 1980er Jahre die Vokabel boat people in den europäischen Sprachschatz aufgenommen worden. Aber das Schicksal von Bootsflüchtlingen in Südostasien, das die Welt seinerzeit beschäftigte, ist nicht ins Drehbuch eingeflossen. An den Flüchtlingen nimmt Fellini kein brennendes Interesse, sie dürfen das Fremde, Unwägbare bleiben, auf das sich allerdings auch mulmige erotische Begehrlichkeiten richten. Arglos ist der Film nicht. Ich vermute, Beier spürte von einem gewissen Punkt an die Notwendigkeit, ihre Bühnenfassung gegen die Vorlage zu konzipieren.

Mithin wurde es für mich ein erstaunlicher Theaterabend aus lauter Gründen, die wenig mit Fellini zu tun haben. Der Untertitel »Ein europäisches Requiem« ist eine Spur zu hochstaplerisch. Während der Film eine dezidiert europäische Gesellschaft in den Blick (nebst grotesken Sprachverwirrungen) nimmt, bleiben die Reaktionen des Bühnenensembles zutiefst deutsch. Es greifen jene typischen Reflexe der Selbstrechtfertigung, die zur Folklore hiesiger gesellschaftlicher Befindlichkeiten gehören. Auch Beiers Trauergesellschaft ist auf absurde Weise mit sich selbst beschäftigt. Ignoranz, Narzissmus und die unschlüssige Solidarität seiner Reisegesellschaft mit den Neuankömmlingen Figuren erheitern Fellini bei aller Distanz auch. Beier geht mit den ihrigen scharf ins Gericht. Auch sie setzt komische Akzente, die aber nicht aus der Zeichnung der Charaktere entstehen, sondern sich allein den Darstellern verdanken.

Dann, nach etwa der Hälfte des Abends, tritt ein enormer Elan auf den Plan. Die Flüchtlingsdarsteller kapern die Bühne und bald auch den Zuschauerraum. Sie führen nichts Geringeres im Schilde, als den depressiven Kontinent Europa zu heilen. Dieses Mandat übernehmen sie mit Verve und Ironie, verfallen beim Spiegelvorhalten leider auch in eine gewisse Koketterie. Das Schauspiel stürzte mich in ein Wechselbad aus Neugierde, Begeisterung und Abwehr. Es rüttelt gründlich und selbstgewiss auf. Zuweilen empfand ich das als Nötigung: Im Theater ist es mir lieber, einer Leistung zu applaudieren als einer Gesinnung. Beier scheint es tatsächlich als moralische Anstalt wiederentdecken zu wollen. Das Kino kann da mitunter gewährender und klüger verfahren. Paolo Sorrentinos »Ewige Jugend« etwa führt gerade vor Augen, dass auch Luxusprobleme uns sehr wohl angehen können. Aber aus der Spannung und Ambivalenz, in die mich die Aufführung versetzte, habe ich mich bis heute noch nicht ganz gelöst. Die nächsten Aufführungen (www.schauspielhaus.de) sind am 6. und 10. Januar.

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