Das neue isländische Kino

Under the active sky
»Weißer weißer Tag« (2019). © Arsenal Filmverleih

»Weißer weißer Tag« (2019). © Arsenal Filmverleih

Island ist zu einer festen Größe im europäischen ­Festivalzirkus geworden – auch wenn nur wenige der eigenwilligen Filme bei uns ins Kino kommen. Jetzt ­starten gleich zwei. Ein Überblick über den isländischen Spielfilm

Die Kamera folgt lange aus der Luft einem Auto, das eine einsame Straße entlangfährt, ohne Gegenverkehr, ohne Schwierigkeitsgrad. Doch auf einmal bricht es aus, stürzt die Klippen hinunter. Mit dem Tod beginnt »Weißer weißer Tag« von Hlynur Pálmason, und er wird seine Wirkung den ganzen Film lang haben. Im Vorspann heißt es, ein altes isländisches Sprichwort besage, dass es an bestimmten »weißen« Tagen, wenn der Horizont mit der Erde verschmelze, möglich sei, Verbindung mit den Toten aufzunehmen. Und der Tod seiner Frau durch den Autounfall lässt Ingimundur auch nach zwei Jahren nicht los. Ingimundur ist Polizist, aber vom Dienst freigestellt; er muss einen Psychologen konsultieren, aber er kümmert sich um seine Enkeltochter, baut ein Haus, in das einmal deren Familie einziehen soll. Als er einmal durch ein Video erfährt, dass seine Frau ihn betrogen hat, rastet er langsam, aber sicher aus.

Auch in »Milchkrieg in Dalsmynni« von Grímur Hákonarson spielt der Tod eine wichtige Rolle. Mit seinem Laster kommt Reynir von der Straße ab, technisches Versagen ist auszuschließen, sagt die Polizei. Aus Scham hat sich Reynir umgebracht, der die Höfe in der Gegend von Dalsmynni beliefert – und Bauern, die nicht bei der lokalen Genossenschaft kaufen, verpetzt. Der Tod ist der Auslöser, dass Reynirs Frau Inga den Widerstand gegen die hohen Preise der Genossenschaft und ihre mafiaähnlichen Methoden organisiert.

»Milchkrieg in Dalsmynni« (2019). © Alamode Film

Sicher, man kann diese beiden Filme nicht in einen Topf werfen, sie verhandeln ganz unterschiedliche Sujets, eine Charakterstudie in Sachen Selbstermächtigung der eine, ein Solidarisierungsfilm à la Ken Loach der andere. Aber: beide haben diesen genuin isländischen Touch, mit einem genauen und ruhigen Blick auf die Menschen, die mitunter wie ausgesetzt wirken in der Landschaft. Beide Filme liefen im letzten Jahr bei den Nordischen Filmtagen in Lübeck, dem Festival, das sehr viel getan hat für die Verbreitung des isländischen Filmschaffens in Deutschland und in den letzten Jahren meist mehrere Filme aus dem Inselstaat im Wettbewerb zeigte. Und beide Filme laufen in den deutschen Kinos an: »Milchkrieg« am 9. Januar, »Weißer weißer Tag« am 13. Februar. »Weißer weißer Tag« gewann in Lübeck 2019 den Hauptpreis. Viele isländische Filme­ sind in den letzten Jahren auf Festivals ausgezeichnet worden: 2018 zog in Lübeck »Gegen den Strom« vier Preise auf sich (was es noch nie zuvor gegeben hatte), »Sture Böcke« gewann 2015 in Cannes den Preis der Sektion »Un Certain Regard«, und Isold Uggadóttir wurde 2018 beim Independent Festival in Sundance als beste Regisseurin für »And Breathe Normally« ausgezeichnet. Um nur einige zu nennen.

Angefangen hat die Reputation des isländischen Films in den letzten drei Jahrzehnten mit Friðrik Þór Friðriksson und seinem Film »Children of Nature« (1991), der von einem Ausbruch aus einem Altersheim erzählt – der bisher einzige Film aus Island, der für den Auslands-Oscar nominiert wurde (1992). Wahrscheinlich würde ohne Friðriksson, der das isländische Filmschaffen der 90er Jahre bestimmte, der isländische Film heute nicht da stehen, wo er ist. Man soll ihn in Island voller Respekt den »Paten« nennen, auch weil er als Regisseur und Produzent immer noch mitmischt. Zu seinen besten Filmen zählt sicherlich Die Teufelsinsel, der mit deutscher Beteiligung entstand und 1997 im Forum der Berlinale lief. »Die Teufelsinsel« ist so etwas wie ein isländisches Nationalepos und beschreibt, wie nach dem Abzug der Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg die Ärmsten der Armen in die aufgegebenen Baracken ziehen – Island erlangte erst unter alliierter Besatzung die Unabhängigkeit von Dänemark und vollzog innerhalb weniger Jahrzehnte den Sprung von einer isolierten ruralen Gesellschaft zu einem der reichsten Länder Europas.

Die Wertschätzung für Friðrikssons Filme, die oft auch bei uns in den Programmkinos liefen, machten den Aufschwung des isländischen Kinos im dritten Jahrtausend überhaupt erst möglich. 2001 legte Baltasar Kormákur mit »101 Reykjavik« sein Spielfilmdebüt vor, die Geschichte des Nesthockers Hlynur, der mit 30 noch bei seiner Mutter lebt und Arbeit verabscheut, dessen Weltbild aber ins Wanken gerät, als seine Mutter ihre Homosexualität eingesteht – und ihre Freundin von ihm schwanger ist. Man merkt diesem Film seine Orientierung an den streunenden Helden der 60er Jahre deutlich an (nebenbei waren Nesthocker, siehe Tangui, in dieser Zeit ein beliebtes Filmsujet), aber man spürt auch immer die spezielle isländische Lakonie: Als sich Hlynur umbringen will, durch Erfrieren im Schnee, setzt prompt ein warmer Regen ein.

Außenseiter und Tagträumer waren ein beliebtes Sujet in den frühen 2000er Jahren. 2004 debütierte Dagur Kári mit seinem großartigen »Nói Albínói. Nói«, der Albino, (verkörpert von Tómas Lemarquis, der danach in vielen internationalen Produktionen, etwa im Berlinale-Gewinner »Touch Me Not«, zu sehen war), ist 17, ein Rebell und Einzelgänger, Tagedieb und Anarchist. Er lebt bei seiner Großmutter, leert den Spielautomaten des Cafés an der Tankstelle des Ortes, dessen vereiste Straßen nicht gerade von vielen Menschen bevölkert werden. Wie ein Gefängnis wirkt das Dorf, eingeklemmt zwischen verschneiten hohen Bergen, und deshalb versucht Nói, mit dem Mädchen Iris zu fliehen. In einer der schönsten Szenen des Films schauen die beiden sich in der Schule eine Karte Europas an, auf der Island irgendwo ganz links oben liegt. Kári ist seinem lakonischen Blick auf irgendwie sympathische Außenseiter treu geblieben; im Anschluss drehte er »Dark Horse« (2005) in Schwarz-Weiß und auf den Straßen von Kopenhagen, mit einem Typ, der Graffiti im Auftrag sprayt und ein bisschen an Werner Enke erinnert. Auch in Káris viertem und vorerst letztem Film »Virgin Mountain« (2015) ist noch ein Hauch dieser Außenseiterperspektive zu finden. Der Held Fúsi ist ein alleinlebender übergewichtiger 40-Jähriger mit festem Tagesablauf, verkörpert von Gunnar Jónsson, der in Island aus Fernsehserien und als Comedian bekannt ist. Eines Tages bekommt er von seiner Mutter einen Line-Dance-Tanzkurs geschenkt und trifft Sjöffnne (Ilmur Kristjánsdottir), aber eine klassische Romanze wird nicht draus. Kári, der an der Filmhochschule in Kopenhagen studierte, lehrt heute dort Regie, was seinen geringen Output erklärt.

Produziert wurde »Virgin Mountain« von Kormákur, dem produktivsten isländischen Filmemacher, einem vielseitigen Künstler, der wie viele Kollegen auch als Schauspieler arbeitet, zu Hause in vielen Genres, auch im Krimi und im Actionfilm. Schon zu Beginn seiner Karriere und zum Start seines Films »101 Reykjavik« sagte er dem »Guardian« in Anspielung auf den langen Schatten von Friðrik Þór Friðriksson, dass er sich eher als europäischer Regisseur verstehe, der in Island geboren ist, denn als isländischer Regisseur. Folgerichtig hat er eine Zeit lang in Hollywood gearbeitet, dort etwa 2012 die Schmugglergeschichte »Contraband« mit Mark Wahlberg inszeniertsowie ein Remake des isländischen Films »Reykjavik – Rotterdam« von Óskar Jónasson, in dem er selbst die Hauptrolle übernahm. Kormákur hat ein Gespür für physisches Kino, für Naturgewalten, Wasser, Schnee und Eis – wie man an »Adrift« (2018, ein Paar verunglückt auf hoher See) und dem Katastrophenthriller »Everest« (2015) ablesen kann, der das Scheitern der neuseeländischen Mount-Everest-Expedition von 1996 nachstellt.

Mit »The Deep« (2013) kehrte Kormákur vorübergehend in seine Heimat zurück. Auch dieser Film beruht auf einer wahren Geschichte: 1984 überlebte der Fischer Guðlaugur Friðþórsson nach einer Havarie sechs Stunden im fünf Grad kalten Wasser – ein biologisches Phänomen, denn eigentlich kann ein Mensch nicht viel länger als eine halbe Stunde in so kaltem Wasser existieren. Der korpulente Gulli überlebt nicht nur das Wasser, er muss sichauch noch zwei Stunden lang zum nächsten Dorf durch den Schnee schlagen. Da jeder, zumindest in Island, Gullis Geschichte kennt, verzichtet Kormákur auf eine übliche Spannungsdramaturgie und fügt nach der Rettung Gullis sogar einen Appendix an, Untersuchungen, die der Fischer danach über sich ergehen lassen musste. Faszinierend sind die Aufnahmen über und unter Wasser, meist vor Ort gedreht, wenn Gulli mit den Möwen redet oder über die letzte Rate für sein Motorrad nachdenkt.

Mit »Der Tote von Nordermoor« (2006) hat Kormákur sich auch im Krimigenre erprobt, einem Nordic Noir, der Jahrzehnte zurück in die Vergangenheit führt. Auch diesem Genre ist Kormákur treu geblieben: Mit sich selbst in der Hauptrolle präsentierte er 2016 in San Sebastian den Selbstjustizthriller »Der Eid«, in dem er als Arzt den Freund seiner Tochter entführt, der sie unter Drogen setzt. Ein scharf analysierender Film über die Hilflosigkeit eines Vaters, der trotz seines hippokratischen Eids bereit ist, die Grenzen des Gesetzes und der Zivilisation hinter sich zu lassen. Als Produzent stand Kormákur hinter den beiden Staffeln der Krimiserie »Trapped«, die das ZDF ausstrahlte.

Natürlich entstand der Höhenflug des isländischen Kinos der letzten Jahre vor dem Hintergrund einer gezielten Filmförderung durch das Icelandic Film Centre, das zwar über keine allzu hohen Summen verfügt, aber gerade Koproduktionen fördert. Bis zu zehn Kinofilme entstehen so in dem Land mit 380 000 Einwohnern und – immerhin – 43 Kinos. Und die magische nordische Landschaft, wo selbst im Sommer Schnee auf den Hängen liegt, hat so manches Filmprojekt angezogen. Ein Denkmal gesetzt hat der Insel der amerikanische Fotograf Chris Burkard in seiner bildgewaltigen Doku »Under An Arctic Sky« (2017). Allerdings fördert das Icelandic Film Centre auch gezielt Filmvorhaben, die in Island realisiert werden, mit einem Steuernachlass von 25 Prozent. Die Liste gerade der Mainstreamfilme, die auf Island in Szene gesetzt wurden, ist lang. Sie reicht von der Bond-Folge »Stirb an einem anderen Tag« (2002) über »Noah« und »Prometheus« bis zu »Star Wars: Das Erwachen der Macht«, in dem einige Szenen auf dem Eyjafjallajökull-Gletscher gefilmt wurden. Der kurioseste Film dieser langen Liste ist sicherlich »Dead Snow 2«, in dem Nazi-Zombies gegen russische Untote kämpfen. Eigentlich spielt das in Norwegen, aber gedreht wurde es in Island.

Natürlich spielt die Landschaft auch in den originär isländischen Produktionen eine große Rolle, aber mehr noch fasziniert am isländischen Film der letzten Jahre die Genauigkeit, mit der die Filmemacherinnen und Filmemacher die sozialen Verhältnisse und ihre Figuren beobachten. Mitunter spitzen sie die Konflikte zu regelrechten Parabeln zu, etwa in dem Schafzüchter-Duell in »Sture Böcke« oder der David-gegen-Goliath-Geschichte »Gegen den Strom«, die im letzten Jahr sehr erfolgreich in unseren Programmkinos lief. Aber selbst wenn sich wie in »Under the Tree« (2018) von Hafsteinn Gunnar Sigurðsson zwei Reihenhausbesitzer-Familien bekriegen, artet das nicht in Klamauk aus – das Lachen bleibt bitter in diesem Film. Komödien sind übrigens selten in Island, ganz anders als in Deutschland, wo jeder Kassenerfolg eine Komödie zu sein hat.

Island kann sehr kalt sein. Das Sozialdrama »And Breathe Normally« (2018) von Isold Uggadóttir, übrigens eine Netflix-Koproduktion, vermeidet bewusst jede Postkartenansicht von Island; vielmehr zeigt es die Gegend rund um Kevlavik, den Flughafen von Reykjakvik, als eine düstere, verregnete Brache. Es geht um die sich überschneidenden Lebenswege einer alleinerziehenden Mutter, die mit ihrem Sohn in einem VW-Golf lebt, und einer Asylsuchenden, die eigentlich nach Kanada weiterreisen will und wegen ihres gefälschten Ausweises festgehalten wird. »And Breathe Normally« erzählt, wie viele neue Filme aus Island, auch von Solidarität und gegenseitiger Hilfe. Auch in »Sparrows« (2016) von Rúnar Rúnarsson ist es kalt, obwohl es Sommer ist. Und die Aussichten sind für den 16-jährigen Ari düster. Seine in Reykjavik lebende Mutter hat ihn zurück in den Nordwesten der Insel verfrachtet, weil sie auf eine längere Reise geht. Ari fühlt sich fremd in der Gegend, in der er aufgewachsen ist, mit einem versoffenen Vater und einer Jugendliebe, die nichts mehr von ihm wissen will. »Sparrows« ist ein bitterer, aber meisterhafter Coming-of-Age-Film, und Rúnarsson sicherlich eines der ganz großen Talente der Insel. In Lübeck lief 2019 sein »Echo«, eher ein Experimentalfilm, der so etwas wie das Porträt der Insel und ihrer Menschen versucht, in 56 Episoden, die in den Wochen rund um Weihnachten und Neujahr spielen – Island, die Sinfonie einer Insel gewissermaßen. Aber nicht schnell geschnitten wie in den Querschnittsfilmen der 20er Jahre, sondern mit statischen Einstellungen. Von Rúnarsson werden wir noch viel hören.

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