Berlinale Panorama: Heilende Trauer

»Alle die du bist« (2024). © Port-au-Prince

»Alle die du bist« (2024). © Port-au-Prince

Das beim Publikum beliebte Panorama setzte auf Hoffnung und Zuversicht trotz Verlust und Trauer – meist mit starken und sperrigen Frauen, mal konventionell erzählt oder die visuellen Möglichkeiten erforschend

Die Panorama-Sektion präsentiert die ganze Vielfalt von Lebenswirklichkeiten, ergründet die erzählerischen wie visuellen Räume und eröffnet neue Realitäten. Und so setzte auch in diesem Jahr der Eröffnungsfilm »Crossing« ein klares Zeichen  – nicht als leicht zugänglicher Publikumsmagnet, sondern als eine mit zarten Pinselstrichen gezeichnete Reise einer älteren Frau zu sich selbst und in die queere Community Istanbuls. Mit visueller Eleganz folgt Levan Akin, ein schwedischer Regisseur mit türkisch-georgischen Wurzeln, dieser Suche. Es ist eine poetische Vision von Akzeptanz, Menschlichkeit und Toleranz, in der die Topografie der Metropole zwischen Okzident und Orient zum Sinnbild ihrer Figuren wird. 

Auch in »The Outrun« der deutschen Regisseurin Nora Fingscheidt (»Systemsprenger«) dient die Kulisse als Analogie zum Innen­leben der Protagonistin: Nach exzessiven und von Alkoholsucht geprägten Jahren in London kehrt Rona (Saoirse Ronan) in ihre Heimat, auf die rauen, spärlich besiedelten schottischen Orkneyinseln, zurück. Basierend auf der fragmentarisch erzählten Autobiografie von Amy Liptrot wählt Fingscheidt ein nicht lineares, assoziatives Erzählen, untermalt die Geschichte mal mit hämmernden Elektrobeats, mal mit dem Donnern der Wellen. Rona ist eine Figur am Abgrund, ihren Frieden findet sie dennoch. 

Vom Dämon der schwindenden Liebe erzählt Michael Fetter Nathansky in seinem Sozialdrama »Alle die Du bist«: Aenne Schwarz spielt die engagierte Nadine, die für den Erhalt ihrer Fabrik am Rande Kölns kämpft, sich um die beiden Töchter und ihren liebevollen, zugleich aufbrausenden und labilen Mann (Carlo Ljubek) kümmert. Zunehmend wird dieser Mann für sie zu einem multiplen Fremden, zum zu behütenden Kleinkind, zum virilen jungen Erwachsenen – zu einem störrischen Rind. Nathansky setzt das genau so ins Bild um, was zunächst irritiert und doch grandios funktioniert. 

An einem Wendepunkt in ihrem Leben steht auch Diane (Dorothée de Koon) in »Les Paradis de Diane«. Unmittelbar nach der Geburt ihres Kindes flüchtet sie allein nach Benidorm an der spanischen Costa Blanca. Warum sie diese blinkende Touristenhölle wählt, bleibt offen. Überhaupt lässt das Regieduo Carmen Jaquier und Jan Gassmann viele Fragen unbeantwortet, folgt dieser verlorenen Frau einfach, die ihren Platz findet, ohne ihn klar zu definieren.  Was die insgesamt 30 unterschiedlichen Beiträge in der Panorama-Sektion eint – 20 davon sind Spielfilme – ist die Suche nach individueller Geborgenheit. Diese findet sich oft außerhalb der Konventionen, egal ob es in Jane Schoenbruns »I Saw the TV Glow« um die berührende Erforschung der Identität zweier Jugendlicher geht, um den Blick der elfjährigen Lucy auf ihre Mutter in »Janet Planet« von Annie Baker oder eine komplexe Vater-Tochter-Beziehung in »Faruk« von Aslı Özge. Den Panorama-Publikumspreis erhielt am Ende »Memorias de un cuerpo que arde« der costa-ricanischen Filmemacherin Antonella Sudasassi Furnis. In der Figur einer einzelnen älteren Frau (Sol Carballo) lässt sie in einem Mix aus Dokumentation und Fiktion die realen Geschichten dreier Frauen verschmelzen, die unter Repressionen und Prüderie aufgewachsen sind. Es ist eine späte (sexuelle) Befreiung dieser Frauen, die nach Jahrzehnten der Unterdrückung ihr Glück noch gefunden haben. Sehr tröstlich, hoffnungsvoll und fernab jeglicher Resignation.

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