Im besten Alter

40 Jahre epd Film!

Wir feiern das Heft – und die Filme, die wir begleitet haben. Drei Regisseure und eine Regisseurin ­haben die ­Patenschaft für je ein Jahrzehnt übernommen: Was wichtig war – und was bleibt


 

Dominik Graf hatte viel fürs Fernsehen (»Der Fahnder«) gearbeitet, bevor er 1988 mit »Die Katze« einen Hit landete: Der Kriminalfilm mit Götz George war mit 1,3 Millionen Besuchern einer der großen Kinoerfolge des Genres

 

 

 

An welchen Film denken Sie zuerst, wenn vom Kino der 80er die Rede ist?

»Blade Runner«, Ridley Scott, 1982. 

Welcher Film der 80er hat bei Ihnen am längsten nach­gewirkt?

Sehr schwierig. Es waren so viele. Ich nehme mal aus der Reihe der neuen französischen Thriller namentlich »Das Auge« von Claude Miller, 1983, mit Isabelle Adjani und Michel Serrault. Die inzestuös angehauchte Jagd eines älteren Privatdetektivs auf eine Mörderin, von der er immer mehr annehmen muss, sie sei seine Tochter. Eine Passage durch die Nacht, böse witziges Psychodrama und hoffnungsloser existenzialistischer Noir. Isabelle Adjani zeigte in diesem Jahr noch eine Tour de Force, »L'été meurtrier« von Jean Becker, eine archaische Rachegeschichte aus der Provence. Neues europäisches Starkino, vielleicht war Adjani sogar der Star des Jahrzehnts.

Welche Filmemacher*innen aus diesem Jahrzehnt sind für Sie bis heute wichtig? 

Ridley Scott eigentlich nur wegen dieses einen überragenden Films. Dann Alain Corneau (»Wahl der Waffen«, 1981), Chantal Akerman (»Toute une nuit«, 1982), Jim Jarmusch war damals wichtig. Aus den Siebzigern in die Achtziger kamen viele recht gut hinüber, manche wurden immer besser dabei. Nicolas Roeg (in den 80ern machte er die bis heute unterschätzten »Eureka«, »Insignificance«, »Hexen hexen« u. a.), William Friedkin (»To Live and Die in L.A.«), Maurice Pialat (»À nos amours« und vor allem »Police«) , Brian De Palma startete durch, mein Lieblingsfilm seiner Dekade war »Body Double«. Neu waren zum Beispiel James Foley mit »At Close Range«, Philip Kaufmans »The Right Stuff«, Roger Donaldsons »No Way Out«, Oliver Stone, vor allem mit »Salvador«.

Was waren für Sie wichtige ästhetische Entwicklungen oder technische Innovationen der Ära?

Die überall überfließenden Erzählenergien der 1970er wurden wieder ökonomisiert, kanalisiert, die Dramaturgien der Drehbücher wurden wieder effektiver und knapper. Filmsprachlich war es die Zeit der Fetischisierung der endlos langen Brennweiten. Die gezeigte Physis, der Schweiß auf den Körpern und Gesichtern, nachts immer nasse Straßen. Bahnbrechend Robby Müllers Kameraarbeit in »Down by Law« und – wieder ganz anders – bei »To Live and Die in L.A.« ­Rasant war auch die Entwicklung des Dolby-Tonsystems im Kino.

Welchen Film aus dem Jahrzehnt würde man »heute so nicht mehr machen«? 

Sowas wie »9 1/2 Wochen« vielleicht? Aber »Zeitgemäßheit« finde ich eigentlich sowieso völlig unwichtig.

Welche gesellschaftlichen, historischen Ereignisse haben das Kino dieser Dekade überschattet oder zumindest geprägt? 

Thatcherismus – Falkland, der Kohlismus und die konservative »Wende« von '83, Reagans Wahl 1980, der Afghanistan-Einmarsch der Russen. Die zweite »Wende«, '89, entfaltete ihre Schrecken erst in den 90ern.

Welchen Film der 80er schauen Sie immer wieder? 

»Blade Runner«, »Working Girl«, »At Close Range«, »Possession« (Andrzej Zulawski), »Siesta« (Mary Lambert), »Tchao pantin« (Am Rande der Nacht, Claude Berri) und, und, und …

Wenn das Jahrzehnt eine Farbe hätte, welche wäre das?

Blau. Eindeutig. 



Hans-Christian Schmid bekam 1995 für »Nach fünf im Urwald« den Preis für den besten jungen Regisseur auf den Hofer Filmtagen; Franka Potente gewann einen Bayerischen Filmpreis. Auf die leichthändige Jugendkomödie folgte 1999 der Thriller »23 – Nichts ist so wie es scheint« um eine Gruppe junger westdeutscher Computerhacker im Visier des KGB

An welchen Film denken Sie zuerst, wenn vom Kino der 1990er die Rede ist?

Es gibt nicht den einen Film, aber es gab ein paar Filme, die mich nachhaltig beeindruckt haben. Bei denen ich mich auch nach drei Jahrzehnten noch erinnere, in ­welchem Kino ich sie gesehen und wie wir uns danach darüber unterhalten haben. Das sind »Breaking the Waves«, »Magnolia«, »Der Eissturm«, »Heavenly Creatures«, »La Haine« und »Rosetta«

Welcher Film der 90er Jahre hat bei Ihnen am längsten nachgewirkt?

Vielleicht »Breaking the Waves« wegen der Dogma-Regeln und der Auseinandersetzung damit. Die Idee, mit wenig Technik am Set mehr Freiräume für die Arbeit mit den Schauspieler*innen zu schaffen, fand ich wichtig, auch für meine eigene Arbeit. 

Welche Filmemacher*innen aus diesem Jahrzehnt sind für Sie bis heute wichtig?

Mike Leigh, Robert Altman, Ang Lee, P.T. Anderson, Jean-Pierre und Luc Dardenne. Alles Regisseu­re, deren Schaffen nicht auf ein Jahrzehnt begrenzt ist, und die zum Teil schon seit den 60er ­Jahren Filme gemacht haben. Krzysztof Kieslowski, Milos Forman, Martin Scorsese. Was die Regie angeht, waren die 90er noch deutlicher von Männern dominiert als die letzten Jahre, habe ich den Eindruck. Regisseurinnen, die ich heute spannend finde, wie Alice Rohrwacher, Andrea Arnold, Kelly Reichardt, Charlotte Wells, Sofia Coppola oder Justine Triet, sind erst nach den 90er Jahren in Erscheinung getreten.

Was waren für Sie wichtige ästhetische Entwicklungen oder technische Innovationen der Ära?

Es wurde möglich, mit Videotechnik und vergleichsweise geringem Budget Filme zu produzieren. Die technische Innovation in diesem Bereich hat auch die Ästhetik der Filme verändert. 

Welchen Film des Jahrzehnts würde man »heute so nicht mehr machen«?

Filme mit einem male gaze und Filme, in denen Männer Frauen die Welt erklären. James Bond hat ein Problem, glaube ich. Schimanski auch, aber der ist eine Figur aus den 80ern.

Welche gesellschaftlichen, historischen Ereignisse haben das Kino dieser Dekade überschattet oder zumindest geprägt?

Unterschiedliche ­Ereignisse haben die Themen des Kinos in unterschiedlichen Ländern auf verschiedene Art und Weise beeinflusst. Für mich als deutschen oder europäischen Filmemacher sind die 90er in erster Linie das Jahrzehnt nach dem Fall der Mauer und vor 9/11. Im deutschen Kino gab es einen Komödienboom und vergleichsweise wenige Filme, die Interesse an der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit hatten. In anderen Ländern Europas war das Arthouse-Kino in den 90ern präsenter.

Wenn das Jahrzehnt eine Farbe hätte, welche wäre das?

Keine Ahnung – bunt?


 

Andreas Dresen platzte 1999 mit dem Episodenfilm ­»Nachtgestalten« in die Berlinale. Die nuller Jahre empfingen ihn mit offenen Armen, er drehte sechs Filme, darunter »Halbe ­Treppe«, »Sommer vorm Balkon« und »Wolke 9« 

 

 

 

An welchen Film denken Sie zuerst, wenn vom Kino der nuller Jahre die Rede ist?

Ich fürchte, »Die fabelhafte Welt der Amélie« von Jean-Pierre Jeunet, auch wenn mir persönlich dieser Film nie wichtig war. Vielleicht spiegelt sein riesiger Erfolg aber das Bedürfnis nach Weltflucht, nach Eskapismus zu Anfang des Jahrzehnts, das dann gleich brutal von 9/11 eingefangen wurde. Dem Soundtrack konnte man sich auch als Verweigerer dieses märchenhaft-fantasievollen Stückchens Kino kaum entziehen, bis heute wird der Film ja immer wieder gerne gespielt.

Welcher Film dieser Jahre hat bei Ihnen am längsten nachgewirkt?

»Lilja 4-ever« von Lukas Moodysson – so ein radikales Stück Kino! Es schlägt die Brücke vom Zusammenbruch des Ostblocks hin zur brutalen Ausbeutung der kapitalistischen Gegenwart, inspiriert von einer wahren Geschichte. Die sechzehnjährige Lilja folgt den Versprechungen eines Menschenhändlers auf eine glücklichere Zukunft und reist aus der trostlosen postsowjetischen Gegenwart ins verheißungsvolle, reiche Schweden. Dort wird sie zur Zwangsprostitution gezwungen und stürzt sich am Ende von einer Autobahnbrücke. »Mein Herz brennt« im Soundtrack – meins hat auch gebrannt. Der Film ist hartes Sozialdrama und zugleich Spiegel der Desillusionierung nach dem Ende der 90er. Für mich sehr packend und in seiner Radikalität unfassbar inspirierend.

Welche Filmemacher*innen aus diesem ­Jahrzehnt sind für Sie bis heute wichtig?

Michael Haneke (»Das weiße Band«), Ken Loach (»The Wind that Shakes the Barley«), Fatih Akin (»Gegen die Wand«), Jean-Pierre und Luc Dardenne (»L'enfant«), Maren Ade (»Der Wald vor lauter Bäumen«), Patrice Chéreau (»Intimacy«), Ethan und Joel Coen (»No Country for Old Men«) …

Was waren für Sie wichtige ästhetische Entwicklungen oder technische Innovationen der Ära?

Natürlich und vor allem die Digitalisierung in Produktion und Abspiel, die schon mit Beginn der Dekade Fahrt aufzunehmen begann. Kleine, leichte und lichtempfindliche Digitalkameras machten das Drehen flexibler und eröffneten neue Räume für Schauspieler, auch ganz neue Handschriften. Preiswerteres Drehen wurde möglich, Improvisieren leichter. Ganz neue Möglichkeiten in der Lichtbestimmung oder bei den Visual Effects, eine Wundertüte an Möglichkeiten tat sich auf – aber Filme werden am Ende immer noch mit dem Herzen gemacht und nicht in erster Linie mit der Technik.

Welchen Film würde man »heute so nicht mehr machen«?

Die Frage zielt ja in Richtung Cancel Culture oder zumindest einer veränderten moralischen Perspektive in wechselnden Zeiten. Jeder Film aber ist ein Kind seiner historischen Umstände, ästhetisch und politisch. Er eröffnet gerade dadurch Einblicke in einen anderen Zeitgeist und das finde ich spannend. Die meisten der Filme würde man heute sicher anders machen und denken, ich bevorzuge aber die Originale. Wie durch ein Fenster blicke ich mit ihnen zurück in eine vergangene Welt, vielleicht auch auf überholte Visionen. Das zu reflektieren, daraus zu lernen, das ist Evolution.

Welche gesellschaftlichen, historischen Ereignisse haben das Kino dieser Dekade überschattet oder zumindest geprägt?

Das alles überragende Ereignis der Dekade ist sicher der Terroranschlag von 9/11 mit all seinen Folgen, den Kriegen in Afghanistan und im Irak, der Errichtung des bis heute existierenden Gefangenenlagers in Guantanamo. Im Kino hat sich das natürlich erst mit Verzögerung niedergeschlagen, aber einige sehr überzeugende Beispiele sind doch noch relativ zeitnah entstanden, wie beispielsweise »In this World« und »The Road to Guantanamo« von Michael Winterbottom oder »The Hurt Locker« von Kathryn Bigelow.

Darüber hinaus spielt der Zusammenbruch des ehemaligen Ostblocks natürlich immer noch eine wichtige Rolle. In Deutschland waren es die beiden sehr erfolgreichen Filme »Good Bye, Lenin!« von Wolfgang Becker und »Das Leben der Anderen« von Florian Henckel von Donnersmarck, die die Diskussionen bestimmten. International sind es Filme wie der bereits genannte »Lilja 4-ever« von Lukas Moodysson, die die Folgen des Systemwechsels im Osten in der Gegenwart spiegeln.

Welchen Film schauen Sie immer wieder, ­würden Sie auf die »einsame Insel« mit­nehmen?

»In the Mood for Love« von Wong Kar-wai aus dem Jahr 2000 – ein Film wie ein Gedicht: ­voller Rätsel, Andeutungen, schwebend-schwer und erdig-leicht, sehnsuchtsvoll und zart, mit einer magischen Musik.

Wenn das Jahrzehnt eine Farbe hätte, welche wäre das?

Dunkelblau.


Julia von Heinz wechselt zwischen Publikumskino und persönlichen Filmen. 2015 entstand die Bestsellerverfilmung »Ich bin dann mal weg«, 2020 der autobiografisch gefärbte »Und morgen die ganze Welt«. Auf der Berlinale feiert ihr neuer Film »Treasure« Weltpremiere

In den 2010er Jahren gelangten drei Regisseur*innen mit ihren Werken für mich zu einer Perfektion, die mich nachhaltig beeinflusst hat. Andrea Arnold, Jacques Audiard und Maren Ade waren mir alle in den 2000er Jahren aufgefallen. »Fish Tank« (2009), »Un prophète« (2009) und »Der Wald vor lauter Bäumen« (2003) waren Kinoerlebnisse, die mich staunen ließen: Hier passierte etwas Neues. Hier gab es eine Echtheit, in dem was auf der Leinwand geschah, hier traten filmische Erzähl­mittel so weit in den Hintergrund, dass sich nichts mehr zwischen mich und die Charaktere und ihre Geschichten stellte, um ihnen in ihre Welt zu folgen. Gleichzeitig waren Mia, Malik und Melanie Pröschle neuartige Kinoheld*innen. Underdogs, die auch solche bleiben durften bis zum dritten Akt und darüber hinaus.

In den 2010er Jahren legten dieselben drei Filmemacher*innen Filme vor, die mich bis heute staunen lassen und beglücken. Die ich als Fixsterne und Leuchttürme meines Berufsstandes betrachte und immer wieder anschauen muss, um zu begreifen, was sie auszeichnet: »American Honey« (2016), »Toni Erdmann« (2016) und »Dheepan« (2015).

Die Dramaturgie dieser drei Erzählungen erschien mir nun deutlich konstruierter als bei den vorherigen Filmen, jedoch nahm dies nichts von der erneuten ungeheuren Echtheit, die ich auf der Leinwand erlebte. Es war so, als wären das Regiehandwerk und das filmische Können mitgewachsen, so dass die Regisseur*innen sich diese Konstruktion, auch Manipulation des Publikums, erlauben konnten, ohne an Authentizität einzubüßen. Für mich wurden hier Erzählungen erschaffen, die ich immer wieder hervorhole, wenn ich selbst über Figurenkonstellationen, Erzählzeit vs. erzählte Zeit oder das Maß an möglicher Konstruktion nachdenke. Die Charaktere erreichen eine Größe, die sie zu beispielhaften Vertreter*innen dieser Jahre, dieser Ära, macht. Die epische Liebesgeschichte der beiden tamilischen Geflüchteten Dheepan und Yalini in der Peripherie einer westlichen Demokratie. Die wiederum ganz und gar sperrige und zaghafte Liebesgeschichte zwischen Ines und Winfried Conradi, zwei präzise gezeichnete Vertreter*innen einer typisch fragilen Familienkonstellation unserer Wohlstandsgesellschaft. Die Selbstermächtigung von Star in »American Honey«.

Drei Beispiele von Schauspielkunst, Inszenierung und filmischen Erzählmitteln, die das Können der 2010er Jahre repräsentieren und mich mein Berufsleben lang begleiten werden.

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