Venedig: Der Mix aus Humor und Horror macht's

»Poor Things« (2023). © Walt Disney

»Poor Things« (2023). © Walt Disney

Goldener Löwe für die schwarze Komödie »Poor Things« von Yorgos Lanthimos. Trotz des Streiks in Hollywood zeigte sich das Kino am Lido bei der 80. Ausgabe des Filmfestivals von Venedig in Hochform

Selten gab es bei der Preisverkündung eine so große Zustimmung wie nun zum Ende der 80. Ausgabe des Filmfestivals von Venedig. Als Jury-Präsident Damien Chazelle die Vergabe des Goldenen Löwen an »Poor Things« von Yorgos Lanthimos bekannt gab, brach regelrecht Jubel aus. Der Film, eine satirische Verkehrung des Frankenstein-Motivs mit Emma Stone als »Monster«, war der große Favorit des diesjährigen Wettbewerbs. Mit seiner raren Mischung aus Horror-Elementen, schwarzem Humor und ernsthaften Anliegen wie Emanzipation und Klassenkritik fordert »Poor Things« sein Publikum zugleich heraus und unterhält es bestens. Der griechische Regisseur Lanthimos, der hier bereits zum vierten Mal seit »The Lobster« von 2015 mit Hollywoodstars drehte, kann sich jedenfalls bereits große Chancen im Rennen um den Oscar ausrechnen.

Lanthimos musste wegen des Streiks ohne seine Stars Emma Stone, Willem Dafoe und Mark Ruffalo anreisen. Sein Triumph belegt, dass das Festival, das am 30. August begann, für dieses Mal erstaunlich gut auch ohne die Masse von Glamour und Prominenz funktionierte. Im Kino zählt eben das Engagement und Anliegen eines Films manchmal fast mehr als berühmte Namen.

In bewährter Festivaltradition repräsentierte mithin der Großteil der Preisträgerfilme wichtige aktuelle Themen: Mit Agnieszka Hollands »Green Border« (ausgezeichnet mit dem Jury-Preis) und Matteo Garrones »Io capitano« (ausgezeichnet für die beste Regie und einem Nachwuchspreis für Hauptdarsteller Seydou Sarr) stand gleich zweimal die Debatte um Flüchtende und Fluchthilfe im Zentrum.

Sowohl die 74-jährige polnische Regieveteranin Holland als auch der 54-jährige Italiener Garrone behandeln in ihren jeweiligen Filmen Schicksale mit einem empathischen und sensiblen Blick, der der Politik ihrer jeweiligen Länder zuwider läuft und tatsächlich immer mehr Mut erfordert. Holland wurde bereits per social media vom polnischen Justizminister höchstpersönlich angegriffen, der ihr wegen des angeblichen Schlechtmachens polnischer Grenzsoldaten »Nazi-Propaganda« vorwarf. Die Regisseurin kündigte in Venedig daraufhin an, selbst gerichtlich gegen diese Beleidigung vorgehen zu wollen.

Sehr viel weniger kämpferisch, aber auf sanfte Art nicht weniger nachdrücklich, kam die Umwelt-Kritik des japanischen Regisseurs Ryusuke Hamaguchi daher, der für seinen »Evil Does Not Exist« den Grand Prix der Jury, die Silbermedaille des Festivals erhielt. Hamaguchi, der im vergangenen Jahr für seinen »Drive My Car« den Auslands-Oscar gewann, schildert eine Auseinandersetzung in der Provinz um Wasserressourcen und die Folgen eines Camping-Ressorts. Was als zivile Debatte mit Bürgerbeteiligung beginnt, verwandelt sich in einen verdeckten Kampf unversöhnlicher Gegensätze.

Nach Flüchtlings- und Umwelt-Thematik wurde mit Pablo Larraíns »El conde«, der den Preis für das beste Drehbuch erhielt, schließlich ein Beitrag zur Debatte um Demokratie- und Vergangenheitsbewältigung ausgezeichnet. In seiner Historien-Parabel lässt Larraín den chilenischen Diktator Augusto Pinochet (1915-2006) als Vampir auftreten, der immer noch das Volk aussaugt. Wie »Poor Things« steht »El conde« aber nicht nur für ein intellektuell engagiertes Kino, sondern passt auch zu einem überraschend humorigen Trend, der sich in diesem Jahr durchs Festival zog.

Zwar liefen die reinen Komödien – Woody Allens mit Wohlwollen aufgenommener »Coup de chance« und Richard Linklaters bejubelter »Hitman« – wie so oft außerhalb des Wettbewerbs. Aber in der angestrengten Ernsthaftigkeit der das Löwenrennen dominierenden Dramen und Biopics boten Lanthimos und Larraín mit schwarzem Humor schöne Momente von Leichtigkeit.

Die wichtigste Frage vor Beginn des Festivals war die nach den Auswirkungen des Hollywood-Streiks. Viele Filme wie Bradley Coopers »Maestro« und David Finchers »The Killer« mussten auf die Promotion durch ihre Stars verzichten. Nicht allen hat es geschadet. Und bezeichnenderweise ging der Schauspielerpreis, die prestigeträchtige »Coppa Volpi«, beide Male an US-amerikanische Darsteller: Der 52-jährige Peter Sarsgaard gewann für die Verkörperung eines an Demenz erkrankten Mannes in Michel Francos »Memory«; die 25-jährige Cailee Spaeny bezauberte die Jury als junge Priscilla Presley in Sofia Coppolas Biopic »Priscilla«.

Sarsgaard machte die Preisverleihung zum Podium für die Anliegen der streikenden Gewerkschaft SAG-Aftra, in dem er in seiner Dankesrede deren Forderung nach Kontrolle der Künstlichen Intelligenz im kreativen Prozess unterstützte. Sarsgaards Auftritt – neben dem vieler Regisseure, die im Verlauf des Festivals ihre Solidarität in Pressekonferenz-Statements und T-Shirts bekundeten – belegte indirekt, dass die Gewerkschaft mit der Auflage, die Schauspieler ihre Filme nur in Ausnahmen bewerben zu lassen, ihrem eigenen Anliegen vielleicht sogar mehr geschadet als genutzt hat. Man stelle sich vor, alle Stars hätten anreisen dürfen und weitere von ihnen hätten wie Sarsgaard den Moment zur Aussprache genutzt – die Forderungen zu AI-Verbot und Gewinnbeteiligung an den Streaming-Einnahmen wären zum alles dominierenden Thema am Lido geworden. So aber kam diese 80. Ausgabe merkwürdig verhalten daher. Nachdem die Zuschauer- und Akkreditiertenzahlen endlich wieder einigermaßen das Niveau der Vor-Corona-Zeit erreichten, war davon, dass das Kino und seine Vertriebswege in der Krise sein könnten, seltener denn je die Rede.

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