Sandra Hüller: Therapie zwecklos

. . . und das ist gut so
»Anatomie eines Falls« (2023). © Les Films Pelleas /Les Films De Pierre

»Anatomie eines Falls« (2023). © Les Films Pelleas /Les Films De Pierre

Sandra Hüller ist eine ­Schau­spielerin, die schräge, unbequeme oder gar verstörende Parts stets frontal angeht. Wie in Maren Ades »Toni Erdmann«. Oder wie in »Anatomie eines Falls« und »The Zone of Interest«, mit denen sie in diesem Jahr wieder in Cannes Furore machte. Wir haben einen internationalen Star. Kann man ja mal so sagen. 
 

Ein Blick durch die Lücke in den Regalen, und schon ist es um Christian geschehen. Beim Einräumen der Waren erspäht er auf der anderen Seite ein Gesicht, konzentriert, verschlossen und doch von mädchenhafter Anmut und Verletzlichkeit, das ihn fortan in Bann zieht. Es ist Marion, eine etwas ältere Kollegin. Als sie im Pausenraum des Großmarktes den Neuling in der Belegschaft erstmals sieht, haut sie ihn sofort um einen Automaten-Espresso an. Ihre Kumpelhaftigkeit ist zugleich ein schelmischer Flirt, ihre Direktheit vereitelt jedes Ausweichmanöver. Thomas Stubers »In den Gängen« (2018) lässt offen, ob aus dem zwischen Trostbedürfnis und Verliebtheit schillernden Geplänkel zwischen dem Ex-Häftling und der – womöglich unglücklich – verheirateten Frau etwas wird. Doch Marions Rätselhaftigkeit ist es, die dem Film über die Einpassung eines Außenseiters in die proletarische Arbeitswelt seinen eskapistischen Zauber verleiht. »Du hast Angst vor mir!«, sagt Marion verwundert. Und man kann sich schlicht nicht vorstellen, dass eine andere Schauspielerin diesem Satz so viele Bedeutungsebenen verleihen könnte wie Sandra Hüller. 

Beginnend mit »Requiem« (2006), ihrem ersten bedeutenden Auftritt vor der Kamera, hat Hüller sich zum neuen Fräuleinwunder des deutschen Films entwickelt. War die oscarnominierte Tragikomödie »Toni Erdmann« (2016) ein sensationeller, aber doch als Ausrutscher wahrgenommener deutscher Erfolg, so ist zumindest Sandra Hüller aktuell auf dem Weg zum internationalen Arthouse-Ruhm. Auf den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes wurden den französischen respektive britischen Dramen »Anatomie eines Falls« und »The Zone of Interest« die Hauptpreise verliehen. Beide Male in der Hauptrolle: Sandra Hüller, einmal als Schriftstellerin unter Mordverdacht und dann als »Königin von Auschwitz«, Frau des Kommandanten Rudolf Höß. Als Deutsche in fremdsprachigen Filmen erreicht sie damit ein Renommee, wie es bisher nur die Fassbinder-Entdeckungen Hanna Schygulla oder Barbara Sukowa hatten. Angesichts der international fast völligen Abwesenheit zugkräftiger deutscher Namen ist dieser Doppelerfolg auch Balsam für die Seele hiesiger Filmfans. Doch wenn Regisseur Jonathan Glazer in seiner Dankesrede lobt, dass es einer eigenen »Sandra-Hüller-Kategorie« bedürfe, und Regisseurin Justine Triet im Interview sagt, dass sie ihr Drehbuch auf die Schauspielerin zugeschnitten habe, bestätigen sie, dass diese tatsächlich in ihrer eigenen Liga spielt.

Ihren Filmcharakteren verleiht sie oft eine Komplexität, die zugleich irritiert und berührt, schon weil sie sich keinem Klischee fügen, von keiner Küchenpsychologie einnorden lassen. Das gilt bereits für ihren ersten großen Auftritt als Studentin, die an den Folgen eines Exorzismus stirbt. In »Requiem« (2006) orientiert sich Hans-Christian Schmid lose an dem in den siebziger Jahren angesiedelten Fall von Anneliese Michel. Aufgewachsen in der fränkischen Provinz in streng katholischem Elternhaus, erfährt ein tiefgläubiges Mädchen mit dem Wegzug an die Universität neue Freiheiten und eine ungewohnte Leichtigkeit des Seins. Dem kurzen Ausbruch folgt ein psychischer Zusammenbruch, der von ihr selbst und unterstützt von ihrem verstockten Umfeld als dämonische Besessenheit interpretiert wird. In diesem Psychodrama wird, mit empathischem Blick, die Paranoia der Hauptfigur als vergeblicher Versuch der Abnabelung interpretiert. Ohne Horror, Hysterie und Erbsensuppe à la Linda Blair verkörpert Hüller zutiefst bewegend eine allzu brave junge Frau, die sich, vielleicht als Selbstbestrafung, in religiösen Wahn flüchtet. In der auch im Bezug auf Exorzisten-Rituale zurückhaltenden Schilderung bleibt leider der reale Kontext mit den aus der Familiengeschichte rührenden tieferliegenden Spannungen weitgehend unberücksichtigt. Ihre Intensität bezieht diese Geschichte allein durch Hüllers sensibles Porträt eines kaum erwachsenen Mädchens, das, hilflos im Griff »innerer Dämonen« zappelnd, seine Energie gegen sich selbst richtet, implodiert statt rebelliert. Es ist eine unterspielte und umso tragischere Selbstzerstörung, die viele Fragen offenlässt, und zugleich eine Blaupause für Hüllers zukünftige Paraderollen.

»Über uns das All« (2011). © Real Fiction Filmverleih

Mit äußerlicher Gefasst-, gar Gehemmtheit, hinter der ein unauslotbares Quantum Wildheit und Devianz durchschimmert, fasziniert sie auch im Drama »Über uns das All« (2011) von Jan Schomburg. Darin fällt sie als beruflich und privat erfüllte Frau durch den Suizid ihres Mannes von heute auf morgen aus ihrem geordneten Dasein. Die Enthüllung seines Doppellebens führt auch die Witwe auf Abwege; ihr Verhalten in einer neuen Liebesbeziehung bleibt mysteriös. Hüllers reale Schwangerschaft – sie ist Mutter einer Tochter – schließt den Film ab.  

Die Schauspielerin, die wie keine andere »in ihren Parts neben sich stehen kann«, wie Rudolf Worschech einmal geschrieben hat, schöpft in ihrem nuancierten Spiel auch aus ihrer Bühnenerfahrung. 1978 in Suhl in Thüringen geboren, wurde sie gleich nach dem Abi­tur an der renommierten Ernst-Busch-Theaterschule in Berlin aufgenommen. Die Liste ihrer Engagements reicht vom Theater Basel über die Münchner Kammerspiele, die Volksbühne Berlin, die Salzburger Festspiele und die Ruhrtriennale bis zum Schauspielhaus Bochum. Seit Beginn ihrer Bühnenlaufbahn sammelt sie Theaterpreise noch und nöcher, zuletzt den Gertrud-Eysoldt-Ring für ihre »Hamlet«-Interpretation am Schauspielhaus Bochum, gefolgt von der Wahl zur »Schauspielerin des Jahres« der Zeitschrift »Theater heute«. Im Theater lernte sie, mit unspektakulären Mitteln ihren Figuren Tiefe und Echtheit zu verleihen und eine Aura von Anwesenheit zu erzeugen, die ohne platte Psychologie und große Pose auskommt. Doch da ist noch mehr als die Mischung aus Instinkt und Intelligenz, die ihre Rollen auszeichnet: die Furchtlosigkeit, mit der sie über den eigenen Schatten springt, die völlige Abwesenheit jenes Narzissmus, der als déformation professionelle so manchen Performer zur Nervensäge macht. Dass sie nach ersten Bühnenerfolgen auch zum Film fand, war Zufall. Einen Karriereplan, so sagte sie 2023 im Interview mit einer französischen Zeitschrift, habe sie nicht, sie greife nach dem, was ihr das Leben biete, und das habe »bisher eher gut geklappt«.

Im hiesigen Kino ist Hüller unter »ferner liefen« Stammgast sowohl in Arthouse- wie in Mainstream-Filmen, wobei die Bandbreite von »Ich bin dein Mensch« bis zu »Fack ju Göhte 3« reicht. Dass sie ihr darstellerisches Potenzial aber darüber hinaus entfalten kann, verdankt sie einem noch eher neuen Phänomen. Sandra Hüllers nicht abreißender Erfolg geht Hand in Hand mit dem besonders in den letzten Jahren stärkeren Aufkommen von Autorenfilmerinnen, die Frauencharaktere mit weiblichem statt mit stereotypisierendem Männerblick betrachten und das Terrain des Weiblichen und seine Gefühle genauer erforschen. Neben Jessica Hausner, die Hüller etwa im Kleist-Drama »Amour fou« als Cousine des Dichters besetzte, spielt sie unter der Regie von Frauke Finsterwalder in »Sisi & Ich« (2023) die Hofdame von Kaiserin Elisabeth. Sie wird zur Busenfreundin der Fürstin (Susanne Wolff), begleitet sie auf ihren privaten Reisen und unterstützt sie buchstäblich durch dick und dünn bei ihrer obsessiven Körperertüchtigung. Das faszinierend anachronistische Drama ist auch eine Studie ungesunder Frauenbeziehungen, ein Film über Schwärmerei, Hingabe, Selbstbetrug und die – letztlich enttäuschte – Sehnsucht nach klassenübergreifender Schwesternschaft. Von männlichen Kritikern gern als borderline, ein Wieselwort für das altbekannte »hysterisch«, beschrieben, balancieren Hüller-Heldinnen oft am Rand des Nervenzusammenbruchs. Durch feinste Risse in der Fassade lässt sie weibliche Pathologien von einer so tiefenscharfen und oft verstörenden Wahrhaftigkeit durchschimmern, dass diese das Gefühl erzeugen: So genau wollte man es nicht wissen.

Und deshalb war die Zusammenarbeit mit Regisseurin Maren Ade, die mit ihren mit ebenso viel Sorgfalt wie gnadenlosem Witz durchdeklinierten weiblichen Charakterdramen selbst in ihrer eigenen Liga spielt, wohl unvermeidlich (im Übrigen ist Ades nächster Film längst überfällig). In »Toni Erdmann« (2016) besetzt sie Sandra Hüller als Unternehmensberaterin. Die Tragikomödie handelt davon, wie das Karrieregirl, das in Rumänien eine Firma abwickeln soll, vom eigenen Vater mit komödiantischen Störmanövern gestalkt und aus der Fassung gebracht wird. Vordergründig erscheint dies als pädagogische Maßnahme – Papa ist ein pensionierter Musiklehrer und Alt-68er –, um die Tochter vom neoliberalen Irrweg abzubringen. Tochter Ines, die beruflich »ihren Mann zu stehen« versucht, und der Vater, der nie ein stabiler Vater war und sich nun wie ein aufmerksamkeitsheischendes Kind an sie hängt, sind nicht nur ein paradoxes Gespann. Sein albernes Gekaspere führt bald zu aberwitzigen Reaktionen auch der überaus braven Ines. Der väterliche Psychoterror gipfelt in einem Gesangssolo auf einer Bukarester Hausparty, das bisher nahezu 300 000 Mal auf YouTube abgerufen wurde. Vom Vater mit Verweis auf eine Kindheitserinnerung genötigt und mit dem Klavier begleitet, intoniert Ines den gefühligen Whitney-Houston-Song »Greatest Love of All«, anfangs vor dem entsetzt-amüsierten Publikum sehr falsch, dann immer lauter und in ihrer gequälten Inbrunst selbst den nervigen Vater erschreckend. Es ist der grandioseste aller Fremdschämmomente, die Maren Ade je inszeniert hat. Er erzeugte beim Premierenpublikum erst Gelächter, dann Bestürzung und Szenenbeifall. Der Resonanzraum dieser grausam komischen und das gesamte Lied umfassenden Sequenz, in der die Tochter ihre Not hinausschreit, verursacht Gänsehaut. Er erinnert zudem auf gespenstische Weise an Hüllers schauspielerischen Durchbruch als Exorzismus-Opfer in »Requiem«.

»Sybil – Therapie zwecklos« (2019). © Alamode Film

Die rohe Emotion, die Sandra Hüller in diese Szene zu legen vermag, aber auch ihr slapstickhaftes, klinisch unbewegtes Zusammenbringen von Sex und Ekel in einer anderen Episode von »Toni Erdmann« beeindruckten besonders französische Filmkritiker. ­Sandra Hüller steht, wie ihr ehemaliger Schauspielschul-Kommilitone Lars Eidinger, in Frankreich gerade durch ihre im Vergleich zu französischen Schauspielern freakige Anmutung hoch im Kurs. Wie schmerzfrei Hüller ist, hatte sie zuvor bereits im durchstilisierten belgischen Drama »Brownian Movement« (2010) bewiesen. Da spielt sie eine glücklich verheiratete Ärztin und Mutter in Brüssel, die Affären mit extra unattraktiven Männern pflegt. Geschichte einer Entfremdung, Perversion, Flucht aus dem cleanen Alltag, etwas Dummes tun, um zu merken, dass man noch am Leben ist: Diese merkwürdige Ehebruchgeschichte lässt sich, wie die Hauptdarstellerin, in keine Schublade stecken. Therapie zwecklos. Eine ähnliche Irritation löst ihr neuer Film, das mit der Goldenen Palme ausgezeichnete Krimidrama »Anatomie eines Falls«, aus. Regisseurin ­Justine Triet hatte Hüller bereits 2020 in der Komödie »Sibyl – Therapie zwecklos« in einer Nebenrolle in einem weiblichen Chaostrio besetzt. Sie spielt eine deutsche Filmregisseurin, deren Hauptdarstellerin – wie bald auch die Therapeutin der Hauptdarstellerin – eine Affäre mit dem Lebenspartner der Regisseurin hat. Hüller verkörpert die händeringende Verzweiflung dieser Regisseurin, die ihren Dreh irgendwie zusammenzuhalten versucht, mit einer bis dahin nicht gesehenen komischen Verve. In Triets aktuellem Film aber demonstriert sie als deutsche Romanschriftstellerin, die des Mordes an ihrem Mann verdächtigt wird, eine provozierende Ruhe und Distanziertheit – und lässt doch den Druck im Kessel spüren. Dass die Heldin sich, im Original, in einem Französisch ausdrückt, dessen Nuancen sie nicht gänzlich beherrscht, trägt zum Verwirrspiel bei.

Vielleicht lassen sich ja im Spiegel der französischen Begeisterung für Madame Hüller Hinweise auf die Ergründung jener Ausstrahlung, die ihre Rollen so besonders machen, entdecken. Da wird sie – die Wangenknochen!, die rotblonden Haare! – mal mit Cate Blanchett, mal mit der sphinxhaften Isabelle Huppert verglichen. Die Verführungskraft Hupperts allerdings könnte von Hüllers Charisma nicht weiter entfernt sein. Die Zeitung »Libération« schreckt in ihrer Lobeshymne nicht vor Beschreibungen wie »Kampfmaschine«, »teutonische Disziplin«, »kleiner Soldat mit beängstigender Präzision« zurück. Wie hieß es in »In den Gängen«? »Du hast Angst vor mir!« Sandra Hüller jedenfalls darf man noch allerhand zutrauen.

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