Nahaufnahme von Thomasin McKenzie

Die Stars sind die anderen
»Eileen« (2023). © Jeong Park/Universal Pictures

»Eileen« (2023). © Jeong Park/Universal Pictures

Aber das macht auch nichts: Thomasin McKenzie besticht durch ihre Rollen als scheue Frau, die sich in harten Umgebungen behaupten muss – auch wenn der Neuseeländerin, die aus einer Schauspieler-Dynastie stammt, durch die Wahl ihrer Filme der große Durchbruch bisher verwehrt blieb

»Thomasin Mc-wer?« – So lautete die einhellige Antwort bei einer kleinen Umfrage in meinem cinephilen und filmprofessionellen Freundeskreis, ob man die Schauspielerin Thomasin McKenzie kenne. Selbst bei Nennung ihrer bekanntesten Filme klickte es nur vereinzelt: »Leave No Trace« (2018), »Jojo Rabbit« (2019), »Last Night in Soho« (2021) – ach ja, da war was. Dieses Ergebnis ist umso erstaunlicher, da die genannten Filme bei aller künstlerischen Eigenwilligkeit zu einem beträchtlichen Maß von der Präsenz ihrer jungen Hauptdarstellerin leben. Oder anders gesagt: Nach den üblichen Mechanismen des Filmgeschäfts müsste Thomasin McKenzie ein Star sein. Theoretisch. Praktisch aber hat man den Eindruck, dass sie immer noch nicht ganz angekommen ist.

In gewisser Weise passt das allerdings zu den Leinwandfiguren der heute 23-jährigen Neuseeländerin: Meist wurde sie als schüchterne Teenagerin besetzt, die sich die Welt erst vorsichtig erschließen muss. Bereits in ihrer ersten Hauptrolle, als Titelfigur der neuseeländischen High-School-Webserie »Lucy Lewis Can't Lose« (2016), gab sie eine gehbehinderte, leicht nerdige Schülerin, die »am liebsten unsichtbar« wäre. Zugleich zeigte McKenzie in den fünfminütigen Episoden dieser Serie bereits eine ihrer großen Stärken, nämlich mit wenigen Mitteln eine große Wirkung zu entfalten: ein spöttisch hochgezogener Mundwinkel, ein Blick, der binnen eines Liedschlags von sanft zu stechend wechselt, dazu ein bemerkenswertes Gefühl für Sprache und Betonung. Beide Staffeln der charmanten Serie sind auf YouTube abrufbar und lassen sich quasi in der Mittagspause bingen; es lohnt sich.

»Leave No Trace« (2018). © Sony Pictures

Das Talent wurde der 2000 in Wellington geborenen Thomasin McKenzie praktisch in die Wiege gelegt. Ihr Vater Stuart McKenzie ist Regisseur, während ihre Mutter Dame Miranda Harcourt, die in »Lucy Lewis Can't Lose« als fiese Rektorin mitwirkt, ebenso zum neuseeländischen Schauspieladel gehört wie deren Mutter Dame Kate Harcourt. Ein australischer Journalist formulierte es einst so: »Als Nicht-Neuseeländer muss man sich das ungefähr so vorstellen, als habe man Meryl Streep zur Mutter und Maggie Smith als Omi.«

Ihre ersten, kleinen Filmrollen spielte McKenzie denn auch im Familienkontext: an der Seite ihres älteren Bruders in dem Endzeitfilm »Existence« (2012), an der Seite ihrer Mutter in »Der Hobbit: Die Schlacht der fünf Heere« (2014) sowie unter der Regie ihrer beiden Eltern in dem Coming-of-Age-Fantasyfilm »The Changeover« (2017). »Mir ist klar, dass ich ein ›Nepo-Baby‹ bin,« so McKenzie in einem Interview, in Anspielung auf die spöttische Bezeichnung für elterlich geförderte Schauspielerkinder, »trotzdem weiß ich, wie hart ich für meine Rollen gearbeitet habe.«

Tatsächlich kann man sich kaum vorstellen, dass McKenzies erste Kino-Hauptrolle etwas mit familiärem Einfluss zu tun hatte: 2016 nahm sie an einem Sykpe-Casting für »Leave No Trace« teil, und weckte sofort die Aufmerksamkeit der Regisseurin Debra Granik und ihrer Koautorin Anne Rossellini. »Es hätte vielleicht naheliegendere Schauspielerinnen gegeben«, so Rossellini damals, »aber Thom hatte eine Unschuld und Entrücktheit, die uns ansprach.« Die Rolle einer 13-jährigen, die mit ihrem Vater (Ben Foster), einem traumatisierten Kriegsveteranen, versteckt in den Wäldern von Oregon lebt und nach ihrer Entdeckung in die Zivilgesellschaft eingegliedert werden soll, spielte McKenzie mit einer Mischung aus zerbrechlicher Weltfremdheit und resoluter Klarsichtigkeit. Der Film ist einerseits eine bewegende Vater-Tochter-Geschichte, dank McKenzies feinsinniger Darstellung aber mehr noch eine außergewöhnliche Coming-of-Age-Studie. Debra Granik hatte bereits mit »Winter's Bone« einer talentierten Nachwuchsschauspielerin zu Starruhm verholfen: Jennifer Lawrence. Doch anders als ihr blieb Thomasin McKenzie der große Durchbruch verwehrt.

Ihren Ruf als Charakterdarstellerin konnte sie gleichwohl in weiteren Arthouse-Filmen zementieren. In der Shakespeare-Adaption »The King« (2019) verkörperte sie die jüngere Schwester von Henry V., in »Jojo Rabbit« (2019) spielte sie eine Jüdin, die sich kurz vor Kriegsende im Haus eines fanatischen Hitlerjungen versteckt. Mit relativ wenigen Szenen wird McKenzie zur Seele dieses Films, der seine emotionale Wucht aus ihrem klugen Spiel zwischen wissender Zurückhaltung und Willensstärke bezieht. Wenn sie in der letzten Szene einen befreienden Tanz beginnt, geht einem das Herz auf.

»Leave No Trace« und »Jojo Rabbit« brachten McKenzie mehrere Filmpreise und zahllose Nominierungen ein, aber – vergleiche Jennifer Lawrence – keine großen Hollywoodangebote. Allerdings scheint es ihr um solche Parts auch nicht zu gehen: »Ich wollte nicht der Berühmtheit wegen Schauspielerin werden«, erklärte sie kürzlich in einem Interview. Dazu passt, dass sie eine Rolle in »Top Gun: Maverick« ablehnte, um stattdessen in dem zu wenig beachteten Kriminaldrama »Lost Girls« (2020) mitzuwirken – diesmal als stille Teenagerin, die im Schatten ihrer spurlos verschwundenen Schwester steht. Ein ehrenwerter Part, aber keiner, der Casting-Agenten aufhorchen lässt.

Wirklich zünden wollte McKenzies Karriere jedenfalls immer noch nicht. Zumindest nicht im traditionellen Sinne. Sie übernahm eine starke Nebenrolle als sexuell missbrauchte Jugendliche in dem neuseeländischen Sozialdrama »Justice for Bunny Brown« (2021) und gehörte zum Ensemble von M. Night Shyamalans »Old« (2021). Sträflich verschenkt wurde ihr Talent in Jane Campions »The Power of the Dog«, wo sie als schüchterne Küchenhilfe drei Sätze aufsagen und angesichts eines sezierten Hasen entsetzt aufschreien darf. Man fragt sich, ob ihre Rolle auf dem Boden des Schneideraums landete, oder ob es sich um eine Gefälligkeit für (oder von?) Jane Campion handelte, der Patentante von McKenzies Bruder.

Es folgte eine Miniserie, die ganz ihrem angestammten Rollenformat entsprach: in der BBC-Produktion »Life After Life« (2022) gab sie eine fragile junge Frau aus bürgerlicher Familie, die Anfang des 20. Jahrhunderts eine Vielzahl an furchtbaren Ereignissen durchlebt, von Vergewaltigung über illegale Abtreibung bis hin zu Alkoholismus und häuslicher Gewalt, die sich aber dennoch nicht unterkriegen lässt. Eine nuanciert zwischen tanzender Fröhlichkeit und bleicher Depression changierende Darbietung in einer allzu konstruierten Geschichte. Mit dem neuseeländischen Mehrteiler »Totally Completely Fine« (2023) schien McKenzie als forsche Lebenskünstlerin etwas anderes ausprobieren zu wollen, doch wirklich überzeugend wirkt sie mit blondiertem Haar, Boheme-Klamotten und dickem Liedstrich nicht.

In einer Kino-Hauptrolle sah man sie zuletzt in »Last Night in Soho«, Edgar Wrights cinephiler Hommage an italienische Giallos. Einmal mehr verkörperte McKenzie eine scheue junge Frau, die sich in einer für sie fremden, irgendwie unheimlichen Umgebung behaupten muss. Zugleich schenkte diese Rolle ihr ein paar wunderbar leichtfüßige Szenen, in denen sie Tanzen und Lachen darf. Trotzdem drohte ihr die strahlende Anya Taylor-Joy die Schau zu stehlen. Diese Gefahr besteht auch bei ihrem aktuellen Film »Eileen«, wo sie als gehemmte Sekretärin zur besten Freundin der geheimnisvoll-glamourösen Anne Hathaway wird. Der »Star« sind irgendwie immer die anderen. Thomasin McKenzie ist das, was man ein »stilles Wasser« nennt. Angesichts der Tiefe, die sie ihren Figuren gibt, darf das gerne auch so bleiben.

Meinung zum Thema

Kommentare

Thomasin McKenzie habe ich vorhin im Kino in "Eileen" gesehen. Der Film hat mich nicht völlig überzeugt, aber McKenzie war sensationell!! Eine unfassbar gute Performance.

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