Cannes: Welt ohne Schmerz

Von Verbrechen in der Zukunft und in der Vergangenheit
»Crimes of the Future« (2022). © Nikos Nikolopoulos

Sein neuer Film, »Crimes of the Future«, werde so manchen Kinozuschauer aus dem Saal treiben, mit dieser Ansage sorgte David Cronenberg schon im Vorfeld der Premiere in Cannes für Furore. Der 79-jährige Kultregisseur aus Kanada weiß, wovon er spricht. Als er 1996 seinen Body-Horror-Film »Crash« an der Croisette vorstellte, verließ das Publikum in Scharen den Saal. Die, die blieben, aber feierten: Am Ende des Festivals wurde »Crash« für seine »wagemutige Ästhetik« mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet. Ob »Crimes of the Future« eine Palme erhält, wird sich am Samstag herausstellen; die Reaktionen des Publikums unterdessen fiel etwas milder aus. Ein merkbare Anzahl von Zuschauern verließ die Vorstellung früher, von einem Massen-Walkout aber kann keine Rede sein. Am Ende wurde auch für »Crimes of the Future« mehrere Minuten lang im Stehen applaudiert, wie es bei den Gala-Premieren im Grunde üblich ist.

Für Cronenberg ist »Crimes of the Future« eine Rückkehr in mehrfacher Hinsicht. zum einen zu Filmemachen – sein letztes Werk, die Hollywood-Satire »Maps to the Stars« feierte vor acht Jahren Premiere in Cannes –, zum anderen zum Genre Body-Horror, jenem Genre, dem er seinen besonderen Ruf verdankt. Mit Viggo Mortensen (mit dem er nach »A History of Violence« und »Eine dunkle Begierde« zum dritten Mal zusammenarbeitet) in der Hauptrolle entwirft Cronenberg eine düstere Zukunftsversion mit bedenklichen Trends der Evolution. Mortensen verkörpert einen Performance-Künstler, der damit auftritt, sich auf offener Bühne Organe entfernen zu lassen. Das Gute daran: es handelt sich um offenbar funktionslose Organe, die ihm ständig neu wachsen. Denn das ist die seltsame neue Welt der Zukunft, in der Cronenbergs Film spielt: Die Menschen leben noch in den verwahrlosten und verfallenden Gebäuden des 20 Jahrhunderts (gedreht wurde in Griechenland), aber sie empfinden keine Schmerzen mehr. Das Operieren an Körpern ist wie Kosmetik alltäglich geworden, manche können Plastik essen.

Für Cronenberg-Fans ist in »Crimes of the Future« alles dabei, was man vom Regisseur von »eXistenZ« (1999) und »Crash« erwartet: die Erotisierung von Wunden, ein Horror voller Atmosphäre und jede Menge Seltsames und Verrücktes. Damit bildet der Film den radikalen Gegenentwurf zum anderen Altmeister des Festivals, dem 77-jährigen Australier George Miller, dessen Fantasy-Drama »3000 Years of Longing« mit Tilda Swinton und Idris Elba außerhalb des Wettbewerbs gezeigt wurde und an zu viel Biederkeit und Konventionalität scheiterte.

Ein Filmfestival wie Cannes erlaubt seltsame Kombinationen. Am gleichen Abend wie »Crimes of the Future« feierte auch der neue Film des in Berlin lebenden ukrainischen Regisseurs Sergei Loznitsa, »The Natural History of Destruction« Premiere. Hier geht es um die Verbrechen der Vergangenheit: Um die Städtebombardements des Zweiten Weltkriegs. Wie er es zu seinem Genre gemacht hat, montiert Loznitsa in seinem Film ohne Erklärung oder Kommentar die reinen, unmanipulierten Archivaufnahmen: Am Anfang des Films sieht man dokumentarische Szenen aus den Städten Deutschlands, wo Menschen fröhlich auf mittelalterlichen Marktplätzen unter Hakenkreuzfahnen feiern. Es folgen Luftaufnahmen, Bilder aus der Flugzeugbomber-Produktion, kurze Reden von Churchill oder Roosevelt, die lange Sequenz eines nächtlichen Bombardements, von dem nur explodierende Lichter am dunklen Horizont sichtbar sind, und dann viele, viele Luftaufnahmen von Städten, von denen nur noch Skelette, und manchmal auch das nur noch in Ansätzen, übrig sind. Zu sehen sind nicht nur deutsche Städte, aber doch mehrheitlich.

Die Bezüge zur Gegenwart liegen so offensichtlich auf der Hand, dass es tautologisch wäre, sie zu benennen. Loznitsa, der in den letzten Wochen viel in der Presse war, weil er zum Russland-Ukraine-Krieg als Betroffener sprechen kann, gelang es auch mehrfach schon mit nichtkonformen Kommentaren zum Boykott russischer Filmemacher an allen Fronten gleichermaßen anzuecken. Sein neuer Film – dessen Titel sich auf ein Buch von W.G. Sebald bezieht – wird ebenfalls provozieren. Die selten gesehenen Archivaufnahmen allein aber machen ihn schon sehenswert.

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