Cannes: Lärmende Jets und große Gesten

Die ersten Tage des Filmfestivals in Cannes vom Thema Krieg dominiert
Tom Cruise beim 75. Cannes Film Festival (2022). Foto: Serge Arnal/Paramount Pictures

Am Eröffnungsabend des Filmfestivals in Cannes wurde in feierlichen Reden die Macht des Kinos für den Frieden beschworen, einen Tag später zeichnen dröhnende Düsenjets blau-weiß-rote Streifen in den Abendhimmel an der Côte d'Azur. Das Filmfestival in Cannes noch nie ein Ort für feine Differenzierungen. Im Gegenteil, hier liebt man die großen Gesten. Deshalb dürfen die Kampfjets am selben Ort Werbung für »Top Gun: Maverick«, das neue Action-Spektakel von Tom Cruise machen, zu dem am Abend zuvor noch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj aus dem von realen Luftangriffen bedrohten Kiew zugeschaltet wurde.

Die subtileren Punkte seiner Rede – Selenskyj sprach etwa davon, dass auch die »schlimmsten Diktatoren des 20. Jahrhunderts das Kino liebten« – gingen im glitzernden Show-Ablauf der Auftakt-Gala unter. Was blieb, war die cinephile Filmkenntnis, mit der er unter anderem aus Charlie Chaplins »Der große Diktator«, Francis Ford Coppolas »Apocalypse Now« und Quentin Tarantinos »Inglourious Basterds« zitierte.

In diesem Sinn passt es, dass der zweite Tag des Festivals ganz im Zeichen von Tom Cruise stand, auch er ein Mann der großen Gesten und markigen Zitate. Auf dem Roten Teppich wurde Cruise gefeiert als die leibhaftige Inkarnation der vielbeschworenen Wiedergeburt des Kinos nach der Pandemie. Der von ihm vorgestellte Film, das Sequel zu seinem Hit aus dem fernen Jahr 1986 »Top Gun« bekam stehende Ovationen und Direktor Thierry Frémaux verlieh dem Hollywood-Star prompt eine »Überraschungs-Palme«.

Tatsächlich scheint die treffgenaue Mischung aus Humor und Pathos, aus Action und Rührung, die »Top Gun: Maverick« mit seiner Geschichte um junge und ältere Jet-Piloten trifft, als bestes Rezept, um das Publikum wieder in die Kinos zu locken. Ob er je daran gedacht habe, den Film, dessen Premiere vor zwei Jahren hätte stattfinden sollen, auf einem Streaming-Portal zu vermarkten, fragte man Cruise in Cannes. »That was never gonna happen« – »Das wäre niemals passiert«, war die sloganhafte Antwort. Ähnlich markig antwortete er auf die Frage, warum er für seine Stunts sein Leben immer wieder aufs Spiel setze: »Niemand hat Gene Kelly je gefragt: 'Warum tanzt du?'«.

In »Top Gun: Maverick« bleibt der fiktive kriegerische Hintergrund der Handlung nur eine vage Andeutung, was sich als unbedingter Vorteil für einen Publikumsfilm herausstellt, der Kontroversen vermeiden will. Zeitgeist und Zufall zu verdanken ist es dagegen, dass in den Auftaktfilmen der Nebenreihen der Krieg in differenzierter und diverser Form zum Thema wurde. Der italienische Regisseur Pietro Marcello erzählt in »Scarlet« von einem traumatisierten Heimkehrer aus dem Ersten Weltkrieg, der sich in der französischen Provinz nur schwer wieder ins dörfliche soziale Leben eingliedern kann. Und auch die Tochter, die er allein erzieht, ringt als Außenseiterin um ein selbstbestimmtes Leben.

Ohne von Krieg zu handeln, stand unterdessen auch der erste Wettbewerbsbeitrag Kirill Serebrennikows »Tchaikovsky's Wife« in dessen Schatten: Obwohl der russische Regisseur als Quasi-Dissident auf dem Festival willkommen geheißen wurde, galt seinem Film im Kontext der diversen Boykott-Erklärungen – das Cannes-Festival erklärte, keine russischen Delegationen einzuladen und sogar unter den Akkreditierten nur »staatsferne« Medien aufzunehmen – doch eine besondere Beachtung. Diejenigen, die auf einen Seitenhieb auf Putins Regime hofften, enttäuschte Serebrennikow indes.

Sein Film über einen ganz anderen unterrepräsentierten Aspekt der Geschichte, das krude Schicksal der kurzzeitigen Ehefrau des homosexuellen Komponisten Peter Tschaikowski, beeindruckte vor allem durch seine Hauptdarstellerin, Alyona Mikhailova. Ihr Porträt einer sich in den eigenen Illusionen heillos verstrickenden Frau wäre in einem weniger kriegsbelasteten Jahr schon jetzt Favorit für einen Darstellerpreis. Als Skizze eines Netzes aus Verblendung, Lügengebäude und Nichtaufklärung liefert »Tschaikowskis Frau« vielleicht doch einen versteckten Kommentar zur inneren Verfasstheit des heutigen Russland.

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