ZDF: »Höllental«

»Höllental« (Miniserie, 2020). © ZDF/Alexander Gheorghiu

»Höllental« (Miniserie, 2020). © ZDF/Alexander Gheorghiu

Viele falsche Schlüsse

Keine Nachinszenierungen, keine Spekulationen und eine Unmenge von Fragen, denen am Ende nur sehr wenige Antworten gegenüberstehen – »Höllental« entspricht nicht unbedingt dem Erfolgsmodell des populären True-Crime-Formats. Lediglich den Titel von Marie Wilkes Serie könnte man für reißerisch halten, aber das Tal neben der Ortschaft Lichtenberg im tiefsten Franken heißt wirklich so.

In Lichtenberg lebte die neunjährige Peggy Knobloch, die im Mai 2001 spurlos verschwand. Erst im Juli 2016 wurde ihre Leiche in einem Waldstück nicht weit entfernt gefunden. In den 15 Jahren dazwischen und auch danach machte der Fall immer wieder Schlagzeilen, ließ Ermittler und Medien, vor allem aber die Familie und den Ort nicht zur Ruhe kommen, denn er nahm mehrfach spektakuläre bis haarsträubende Wendungen. 

Bereits direkt nach Peggys Verschwinden gab es unzählige Hinweise, Gerüchte über eine Entführung durch den Stiefvater in die Türkei, Aussagen über ein Auto mit tschechischem Kennzeichen, in das Peggy eingestiegen sei, Gemunkel über Kinderhandel und Zwangsprostitution. Die Boulevardpresse war stets eifrig dabei, und Peggys Mutter wie auch die Einwohner von Lichtenberg sahen sich ins Zwielicht gerückt. Aber alle Spuren verloren sich.

Dann präsentierte die Polizei einen Täter: Der geistig behinderte Ulvi Kulaç wurde festgenommen und 2004 wegen Mordes verurteilt, obwohl manche Ungereimtheit blieb. Doch nach einem aufwendigen Wiederaufnahmeverfahren wurde Kulaç freigesprochen – nach mehr als zehn Jahren Haft. Die wohl verrückteste Wendung nahm das Geschehen jedoch nach dem Auffinden von Peggys Leiche: Am Fundort stellte die Polizei DNA-Spuren des NSU-Terroristen Uwe Böhnhardt fest. Dass diese Spur sich als reichlich absurde Ermittlungspanne herausstellte, ließ das Rätsel nicht geringer werden. 

Marie Wilke, zu deren Lehrern Harun Farocki und Heinz Emigholz gehörten, hat bereits mit den Dokumentarfilmen »Staatsdiener« (über die Ausbildung von Polizisten) und »Aggregat« (über das politische Klima in Deutschland im Jahr 2017) mit einer Mischung aus Zurückhaltung und Genauigkeit überzeugt. Bei »Höllental« nutzt sie den langen Atem der Miniserie, um auch scheinbar nebensächlichen Verästelungen im Fall Peggy zu folgen. Ihr Material sind Interviews mit Journalisten, Ermittlern und Bürgern von Lichtenberg sowie Dokumente und Archivaufnahmen, hin und wieder ist aus dem Off die nüchterne Stimme Thomas Heises zu hören, die beispielsweise Polizeiprotokolle zitiert.

Zwei Stilmittel der Miniserie stechen heraus und prägen ihre beklemmende Atmosphäre: Da ist zum einen die Musik von Uwe Bossenz, suggestiv-mysteriös, doch nie manipulativ. Zum anderen sind da die langen Aufnahmen von Originalschauplätzen, teils auf Straßenhöhe, immer wieder aber auch aus Drohnenperspektive gefilmt. Vollkommen menschenleer zeigt die Kamera von Alexander Gheorghiu all diese Orte, ob eine Landstraße, eine Bushaltestelle oder Peggys Wohnhaus, und immer wieder Wälder. So leer gefegt wirkt diese Welt wie eine Spielfläche für die rekonstruierende Fantasie des Betrachters. Und all die Indizien, die »Höllental« gewissenhaft zusammenträgt, ergeben Stück für Stück ein großes Puzzle, bei dem allerdings erschreckend viele Teile einfach nicht zusammenpassen wollen. 

Die größte Stärke von »Höllental« ist, dass diese Widersprüche in keiner Weise geglättet werden. Wilke serviert dem Betrachter keine von ihr präferierte Version der Täterschaft. Sie bleibt neutral und als filmische Ermittlerin unsichtbar. Im Verlauf der sechs Teile ergeben sich zwar Momente, in denen das Versagen der polizeilichen Ermittler unfassbar scheint – etwa als ein hochgradig verdächtiger junger Mann aus Peggys Umfeld einfach nicht weiter überprüft wird, weil die Polizei sich auf Kulaç als Täter eingeschossen hat – doch Wilke schildert auch solche Abgründe ganz und gar nüchtern. Sie enthält sich auch einer Gesellschaftskritik, die etwa an der Dynamik der medialen Berichterstattung oder an der zwielichtigen Rolle des Chefermittlers anknüpfen könnte, der sowohl für die fragwürdige »Überführung« von Kulaç als auch für die NSU-Panne verantwortlich war. Die bewusste Einschränkung des Sichtfelds auf den Fall Peggy Knobloch mag da wie ein Manko wirken, sie gibt dem Betrachter aber genug Ansätze, weiterzudenken, nachzulesen und seine eigenen Schlüsse zu ziehen.

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