European Filmawards Reykjavik

Eine Nachlese von Anke Sterneborg
© European Filmawards

© European Filmawards

Ist »Triangle of Sadness« wirklich der beste und stärkste Film dieses europäischen Kinojahrgangs, oder könnte es sein, dass Ruben Östlunds Klassenkampfsatire einfach nur der bekannteste Film ist, auf den sich die meisten Europäer einigen können? Ein Indiz dafür, dass es ein Großteil der Mitglieder der European Academy gar nicht schafft, wirklich alle nominierten Filme anzuschauen? Das ist die große Frage, die sich stellt, wenn der Schwede nach fünf Jahren nun schon zum zweiten Mal in den drei Königskategorien bester Film, beste Regie, bestes Drehbuch europaweit triumphiert, mit einem Film, der dazu noch schwächer ist als »The Square«, und vor allem zum Ende hin ziemlich chaotisch und überladen aus dem Ruder läuft. Polemisch formuliert, schrumpfen auf diese Weise an der Speerspitze des Europäischen Kinos 52 Filmnationen auf einen schwedischen Regisseur zusammen. Was für den Film spricht ist die Tatsache, dass er ein in besonderem Maße paneuropäischer Film ist, mit Schauspielern aus vielen verschiedenen europäischen Ländern, unter anderem Deutschland, Dänemark, Polen, Frankreich, England, die sich alle auf einem allerdings untergehenden Kreuzfahrtschiff treffen.

Was schon in Politik und Wirtschaft schmerzlich zu spüren ist, zeigt sich erst recht im Filmbereich: Es ist schwer, die Vielfalt Europas auf einen gemeinsamen, starken, zugkräftigen Nenner zu bringen. Es war eine wunderbare Idee, als die europäischen Filmemacher vor 35 Jahren ihre eigene Academy und den dazugehörigen Preis gründeten, als Aushängeschild für das europäische Filmschaffen, nach dem Vorbild der Oscars. Aber leider ist der Stellenwert im Bewusstsein der Filmschaffenden, des Publikums und – zugegebenermaßen – auch in der Presse nicht annähernd so stark verankert, wie es die Oscars sind. Anders ist es nicht zu erklären, dass sich ein großer Teil der Nominierten traditionell gar nicht die Mühe macht, anzureisen und sich stattdessen mehr oder weniger schluffig vor die heimische Kamera setzt, so wie die erkältet in Kapuzen-Schlafanzug, Cap und Halstuch eingemummelte Vicky Krieps oder der für sein Drehbuch zu »Belfast« nominierte Kenneth Branagh, der an seinem Geburtstag offensichtlich Besseres vorhatte, als mit dem europäischen Kino zu feiern. Das führt dann leider dazu, dass die erste öffentliche Verleihung nach zwei pandemiebedingten Ausfalljahren immer wieder an eine Zoom-Konferenz erinnert.


 
Die European Academy hat das Problem natürlich selber erkannt und sucht nach Lösungen: So wurde in diesem Jahr zum ersten Mal der »Month of European Film« etabliert, der helfen soll »den Reichtum, die Fülle und Vielfalt des europäischen Filmschaffens eine europaweite Plattform zu geben«, unter anderem mit Sondervorführungen und Retrospektiven in den europäischen Kinos und mit einem Schwerpunkt auf der Arthouse-Streaming Plattform Mubi. »Was Europa fehlt, ist ein stärkeres Bewusstsein für den gemeinsamen Reichtum, aber auch die Verletzlichkeit seines eigenen Kinos« stellte Matthijs Wouter Knol, Geschäftsführer der European Film Academy im Vorfeld der Verleihung fest: »Es braucht bei mehr Menschen den Willen und die Hingabe, unsere europäische Filmkultur zu respektieren und zu schützen.« In diesem Jahr endete der Month of European Film mit der festlichen Verleihung der Preise in Reykjavik. In einem nächsten Schritt könnte die Bedeutung der European Filmawards auch im Nachgang gestärkt werden, durch eine Kinokampagne für die Siegerfilme, vor allem wenn sie nicht so bekannt sind, wie der bereits in Cannes ausgezeichnete »Triangle of Sadness«.
 
An den isländischen Gastgebern lag es jedenfalls nicht, dass dem Fest des Europäischen Kinos die ganz große Strahlkraft fehlt, sie haben sich sehr engagiert und feierlich, vor allem aber auch lässig charmant und selbstironisch präsentiert. Und der grandiose Bau der Harpa-Konzerhalle, mit seiner vom isländischen Künstler Olafur Eliasson gestalteten Fassaden-Membran, die farblich auf wechselnde Veranstaltungen abgestimmt werden kann und zur Feier des Abends in schillernden Rot-Tönen erstrahlte, bildete schon architektonisch einen glamourösen Rahmen. Der Einsatz der Isländer für das europäische Kino wirkte überzeugend, bei der anschließenden Party hat immerhin auch die isländische Musikerin und 2000 mit dem europäischen Filmpreis ausgezeichnete »Dancer in the Dark«-Darstellerin Björk als DJane aufgelegt. Und bei einer Präsentation der Jahresproduktion an isländischen Filmen und Serien konnte man nur staunen angesichts der imposanten Vielfalt, die diese Nation von nicht mal einer halben Million Bürgern hervorbringt.


  
Auch sonst war das Wochenende reich an emotionalen und unterhaltsamen Momenten, angefangen schon bei einer Vorführung von Deutschland, bleiche Mutter am Donnerstag vor der Verleihungsgala. Im schönen Programmkino Bio Paradis stellte sich die in diesem Jahr mit dem Lifetime Achievement Award der European Academy ausgezeichnete Margarethe von Trotta den Fragen des Publikums und wirkte dabei sehr viel entspannter und  humorvoller als man sie in Deutschland wahrnimmt. Beim anschließenden Gespräch wurde sie als Ehrenpreisträgerin aufgerufen, winkte aber erst mal ab, das sei ja erst in zwei Tagen, und wer wisse schon, ob sie da noch leben würde. Und als man ihr für den Film dankte und sie beglückwünschte wie gut er gealtert sei, meinte sie selbstironisch, der sei besser gealtert als sie selber. »You are hilarious«, bekundete eine Zuschauerin im Kino. Am Abend der Verleihung merkte von Trotta dann in ihrer spürbar bewegten Dankesrede für die Laudation von Agnieszka Holland an, dass sie in 35 Jahren Europäischer Filmpreis erst die dritte Regisseurin ist, die da ausgezeichnet wurde, zeigte sich für die Zukunft aber optimistisch: »I think the time of the women just started!« Auch der Preis an die beste europäische Darstellerin hatte durchaus Signalwirkung, er ging an Vicky Krieps für ihr zugleich beherrschtes und fragil durchlässiges Spiel als österreichische Kaiserin Elisabeth in »Corsage«, eine Anti-Sissi mit einer starken Note weiblicher Selbstermächtigung. Passend dazu widmete Krieps ihren Preis allen Frauen auf der ganzen Welt: »I want to dedicate this to all the women, everywhere in the world that need to be seen and heard, that need to free themselves and heal from these deep deep wounds that we carry for generations and that we need to heal in order that men and women can come together again!«

Der erstmals verliehene European Sustainability Award ging für den European Green Deal, der fortan Filmförderungen an klimabewusste Produktionsbedingungen knüpft, an die European Commission und wurde von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen per Videobotschaft entgegengenommen: »What a powerfull message you send with this award, and indeed movies can really pull at your heartstrings. They can turn the spotlight on an important issue, they can make people embrace a cause and that's exactly what our planet needs right now!” Immerhin kann man bei ihr verstehen, dass sie Wichtigeres zu tun hat, als in Reykjavik Filmpreise zu feiern. Standing Ovations gab es schließlich noch für den Mann, der die ukrainische Flagge im Zuschauerraum in die Lüfte hob, und für die fünf Produzenten aus der Ukraine, die stellvertretend für alle Produzenten, die sich im Kriegsgebiet für den Fortbestand der Filmkultur einsetzen mit dem European Co-Production Award ausgezeichnet wurden und für deren starken Appell für den Zusammenhalt Europas und die Unterstützung für Filmemacher in Risikogebieten. Einen Moment lang war sich Europa elektrisierend einig, ebenso wie in der beklemmenden Trauer um den littauischen Regisseur Mantas Kvedaravičius, der für seine Dokumentation »Mariupolis 2« posthum ausgezeichnet wurde, bei deren Dreharbeiten er im Frühjahr ums Leben kam.

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