Cannes: Was allein das Kino kann

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Das »Dreieck der Traurigkeit« befindet sich zwischen den wohl frisierten Augenbrauen eines männlichen Models. Ein Casting-Agent bemängelt das fast unsichtbare Detail im Gesichtsausdruck von Carl (Harris Dickinson). Was der schwedische Regisseur Ruben Östlund in seinem neuen Film »Triangle of Sadness« ausstellt, ist dagegen weniger subtil. In seiner ätzenden Sozialsatire schickt Östlund eine kleine, aber feine Gesellschaft von Reichen und Schönen auf einer Luxus-Yacht zuerst durch einen Sturm, der ihnen die soeben geschlürften Austern wieder hochkommen lässt, und dann, nach dem Kentern, durch eine Art Revolution, bei der die Hierarchie des Besitzes durch die der Fähigkeiten ersetzt wird. »Ich bin jetzt der Kapitän«, bemerkt trocken die philippinische Reinigungskraft, die als einzige weiß, wie man Fische fängt. 

Das Publikum in Cannes zeigte sich von »Triangle of Sadness« ausgesprochen amüsiert. Östlund erzählt mit Lust an Deftigkeit und so viel trockenem Witz, dass einzelne Szenen und Zitate noch tagelang Gespräch waren an der Croisette. Dass zum Abschluss des 75. Filmfestivals von Cannes die Goldene Palme an »Triangle of Sadness« ging – für Östlund nach 2017 mit »The Square« bereits das zweite Mal –, kann in diesem Sinne als gutes Zeichen für das Kino gesehen werden: Es ist ein Film, der seine Zuschauer nicht mit Kunstanspruch quält, sondern bestens unterhält.

Die Frage nach der Zukunft des Kinos nach zwei Jahren des pandemie-bedingten Niedergangs dräute wie Gewitterwolken über dem diesjährigen Festival. Jede Rede, die gehalten wurde, beschwörte die Kraft des »Cinema« und die Magie von Cannes als seiner zentralen Kultstätte. Und doch gelang dem Festival als solches keine wirklich überzeugende Antwort. Das Filmprogramm, so der Konsens der Fachbesucher, erwies sich als ausgesprochen durchschnittlich. Man war froh, dass das Festival wieder ohne Beschränkungen stattfinden konnte und verdrängte dafür nur zu gern die unguten Zeichen aus der Branche, die vom Schwinden der Besucherzahlen berichten. 

Zu dieser Verdrängungslust passt auch die Großzügigkeit, mit der die Jury unter Vorsitz des französischen Schauspielers Vincent Lindon ihre Preise vergab. Wo sonst maximal sieben Filme aus dem Wettbewerb berücksichtigt werden, zeichneten sie aus einem Programm von 21 Filmen ganze zehn aus. Dass für die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne, die mit zwei Goldenen Palmen und weiteren Auszeichnungen sowieso bereits zu den meist prämierten Regisseuren der Festivalgeschichte von Cannes gehören, ein eigener Preis erfunden wurde, erschien geradezu logisch: Sie erhielten für ihr Migrantendrama »Tori und Lokita« eine Palme zu Ehren des 75. Jubiläums des Festivals.

Ganze zwei Mal vergab die Jury Preise ex-aequo: Der Grand Prix, die Silbermedaille des Festivals ging an das Jugendfreundschaftsdrama »Close« des belgischen Regisseurs Lukas Dhont und an Claire Denis für ihren atmosphärischen Spionage-Thriller »Stars at Noon«. Während der berührende »Close« zu den großen Kritikerfavoriten gehört hatte, gab es für Denis einzelne Buhrufe bei der Verleihung. Die Französin, die in diesem Jahr bereits bei der Berlinale für »Both Sides of the Blade« als beste Regisseurin geehrt worden war, lief darüber unbeeindruckt mit der Palme von der Bühne und ließ Lukas Dhont bei seinem Preisfoto mit leeren Händen dastehen.

Auch der Jury-Preis wurde geteilt: Ihn nahm der polnische Altmeister Jerzy Skolimowski für seine an Robert Bresson angelehnte Esels-Parabel »EO« und das belgische Paar Felix van Groeningen und Charlotte Vandermeersch für ihre Geschichte einer Männerfreundschaft, »The Eight Mountains« entgegen. Statt große Worte zum Überleben des Kinos zu verlieren, dankte der 84-jährige Pole lediglich allen sechs Eseln, die in seinem Film mitspielten, namentlich. Die jungen Belgier immerhin waren so geistesgegenwärtig, dass sie in ihrer Dankesrede nachzogen und ebenfalls die in ihrem Bergdrama mitwirkenden Esel mit Namen Referenz erwiesen. Die Gemeinsamkeit im Humor ließ dabei zugleich einen anderen besonderen Zug dieses Festivaljahrgangs hervortreten: In Abwesenheit der sonst alles dominierenden US-Amerikaner zeigte sich eine angenehm entspannte Diversität des Weltkinos.

So gab es viel Beifall für den Koreaner Park Chan-wook, der für seine Film-noir-Hommage »Decision to Leave« die Palme für die beste Regie erhielt. Mit seinen komplexen, oft blutigen Thrillern wurde Park eine Art Kultregisseur auch in Europa. »Decision to Leave« zeigt ihn von einer ungewohnt romantischen und besonders cinephilen Seite. Der männliche Darsteller-Preis ging ebenfalls an einen Koreaner: Song Kang-ho, auch er spätestens seit seinem Auftritt im oscarprämierten »Parasite« eine Kultgestalt, erhielt ihn für die Darstellung eines Kleinkriminiellen im Sozialdrama »Broker« des japanischen Regisseurs Hirokazu Kore-eda.

Einen durchaus besonderen Akzent setze die Jury schließlich mit zwei Preisen, die an im Exil entstandene Filme gingen: der Ägypter Tarik Saleh wurde für das Drehbuch zu seinem religiösen Verschwörungsthriller »Boy from Heaven« honoriert, den er in seinem Heimatland Ägypten nie hätte realisieren können. Dasselbe gilt auch für »Holy Spider« des Exil-Iraners Ali Abbasi, der darin die wahre Geschichte eines fanatischen Frauenmörders schildert. Zu den bewegendsten Momenten des Abends gehörte schließlich, wie die Schauspielerin Zar Amir Ebrahimi, die in »Holy Spider« eine ihr Leben riskierende Journalistin verkörpert, die Palme als beste Darstellerin entgegen nahm. Für die 40-Jährige, die vor über 15 Jahren wegen eines gefälschten Sex-Videos den Iran verlassen musste, bedeutete die Auszeichnung eine späte Genugtuung. Ihre Beschwörung dessen, was allein das Kino kann, war mehr als hohle Worte, sondern berührende, gelebte Erfahrung.

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