Ruben Östlund: Der Bullshit-Detektor

Ruben Östlund am Set von »Höhere Gewalt« (2014)

Ruben Östlund am Set von »Höhere Gewalt« (2014)

Regisseur Ruben Östlund hat ein feines Gespür für das, was an ­unseren sozialen Übereinkünften nicht stimmt. Kombiniert mit technischer Brillanz ergab das eine Goldene Palme: für »The Square«, jetzt im Kino

Hör auf mit dem Schwedenscheiß! Sei nicht so furchtbar politisch korrekt!«, stachelt einer seiner Mitarbeiter den Kurator Christian in »The Square« an, als dieser Skrupel hat, den Dieben seines Smartphones einen Denkzettel zu verpassen. Als er sich doch darauf einlässt, entdeckt er seine Lust an der Vergeltung – bis die Situation ungemütlich wird.

Könnte Ruben Östlund aus einem anderen Land als Schweden kommen, das wie kein anderes für soziales Bewusstsein, Moral und Toleranz steht? Zu gerne spielt er selbst auf das Klischee an. Man spürt durchaus Freude am Sarkasmus, wenn er in seinen Werken die Bruchstellen der IKEA-Behaglichkeit aufzeigt und belegt, dass überall da, wo Menschen sind, Widersprüche, Ambivalenzen und jede Menge Abgründe lauern, auch in Schweden. Seine Filme sind peinlich genaue Studien menschlichen Verhaltens unter Druck, etwa im Widerspruch zwischen sozialen Erwartungen und persönlichen Wünschen beziehungsweise Ängsten. Wie verhält sich beispielsweise der angesehene Kurator eines Museums für moderne Kunst, wenn sein ganzes moralisches Inventar durch den Diebstahl seines Smartphones und die Folgen auf die Probe gestellt wird?

Noch vehementer als seine vorangegangenen vier Spielfilme folgt Östlunds »The Square« dem Prinzip der Eskalation. Um den Handydiebstahl und seine Folgen gruppieren sich Einzelszenen wie Vignetten, eine bisweilen kafkaeske Verkettung von Kalamitäten und Katastrophen im Leben des Kurators Christian, der eigentlich nur alles richtig machen will in seiner schönen Kunstwelt, in der alles um Marketingstrategien, Künstlergespräche und Galadiners kreist. Fast wie ein wildwüchsiger Katalog sämtlicher Östlund-Themen erzählt »The Square« von Gruppendynamik und Verantwortung, von Abgrenzung und Ausgrenzung, von Klassenunterschieden, Rollenbildern und Klischees. Der Film fragt nach echter Empathie abseits verordneter Moral. Und ständig geht es um Misstrauen, etwa in einer der schrägsten Sexszenen der vergangenen Jahre, die in einen haarsträubenden Streit um das benutzte Kondom mündet. Soll Christian vielleicht ein Kind untergeschoben werden?

Ruben Östlund betrachtet den Menschen stets als »das Tier, das er nun mal ist«, unter satirischer Berücksichtigung von Überheblichkeit und Bigotterie, die das vergessen möchten. Besäße der Filmemacher nicht so viel Selbstironie und Sinn fürs Absurde, dann könnte man dieses Theater der Grausamkeit auch für arrogant halten. Letztlich drehe er aber Filme über sich selbst, sagt Östlund. Und in seinen Filmen paaren sich Härte und Humor, Bedeutungsvolles und Banales, intellektueller Ernst und liebevolle Verspieltheit. Thematisch wie formal scheinen Vergleiche mit Michael Haneke oder ­Ulrich Seidl nahezuliegen, doch Östlund selbst nennt als Vorbilder eher den Amerikaner Harmony Korine und ­seinen Landsmann Roy Andersson.

Ruben Östlund wurde 1974 auf der Insel Styrsö an Schwedens Westküste geboren, nicht weit von Göteborg, wo er seit dem Studium lebt und bis heute gemeinsam mit Erik Hemmendorff abseits von Schwedens eta­blierter Filmindustrie die Produktionsfirma »Plattform« betreibt. Er studierte zunächst Grafikdesign und drehte, selbst leidenschaftlicher Wintersportler, drei ­Amateurfilme übers Skifahren – Addicted, Free Radicals und Free Radicals 2. Aus dieser Zeit der ersten filmischen Versuche stammt laut Östlund die Vorliebe für lange, ungeschnittene Einstellungen, die zu seinem Markenzeichen wurden, vor allem in Kombination mit statischen Totalen und Halbtotalen.

Erst nach den Skifilmen nimmt Östlund ein Filmstudium in Göteborg auf. Sein Studentenkurzfilm »Let the Others Deal With Love« (2001), ein intimer Dokumentarfilm über seine besten Freunde und das Erwachsenwerden, wird für den schwedischen Filmpreis Guldbagge nominiert. Auffällig daran sind die Szenen typischer Männerrituale, von Saufexzessen bis zu Raufereien, denen man in Östlunds Spielfilmen häufig wiederbegegnet, von enormer Komik etwa in »Höhere Gewalt«, wenn Horden halbnackter, besoffener Männer in der Disco wie ganz und gar von Sinnen tanzen und brüllen.

Von Anfang an kommen Impuls und In­spiration vor allem aus der eigenen Erfahrung und dem persönlichem Umfeld. So drehte er 2002 den einstündigen Dokumentarfilm »Family Again« über seine Eltern und ließ sie 23 Jahre nach ihrer Trennung über die Ehe sprechen – eine konfliktreiche Begegnung, nur gelegentlich vom Humor der Protagonisten wie des Regisseurs aufgefangen. Schon hier geht es um die Diskrepanz von Wunsch und Wirklichkeit und die unterschiedliche Bewertung derselben Situation.

In seinen ersten beiden Spielfilmen »The Guitar Mongoloid« (2004) und »Involuntary« (2008) spielt Östlund in größtenteils unverbundenen Handlungssträngen Situationen abweichenden Verhaltens und heikle Gruppendynamiken durch. Nichts ist vorhersehbar in diesen Filmen. »The Guitar Mongoloid« sammelt scheinbar Sinnloses wie die Streiche einer Gruppe Jugendlicher auf nächtlichem Streifzug oder Episoden aus dem Leben der Titelfigur, eines Jungen, der auf seiner Akustikgitarre in der Fußgängerzone Punksongs covert und mit seinem älteren Kumpel in der Tram herumalbert. Während hier eine anarchische Energie wirkt, kommt »Involuntary« fokussierter daher: In fünf parallel entwickelten Situationen geraten Einzelne in Konflikt mit einer Gruppe, sei es der Fahrer eines Reisebusses, der sich weigert weiterzufahren, bevor sich der Fahrgast meldet, der den Vorhang in der Bustoilette beschädigt hat, oder eine junge Lehrerin, die den Übergriff eines Kollegen gegen einen Schüler melden will, wofür sie vom Kollegium ausgegrenzt wird. Eine Schlüsselszene inszeniert das Konformitätsexperiment von Solomon Asch nach, das belegt, wie beeinflussbar Einzelne sind, wenn sie einer Gruppe gegenüberstehen, bis hin zur Leugnung offensichtlicher Tatsachen – ein Leitmotiv für Östlunds Werk.

Auch aufgrund der Besetzung mit Laiendarstellern wirken diese ersten fiktionalen Filme passagenweise wie Dokumentarfilme. Die Punkenergie des »Guitar Mongoloid«, absurde Details und Zufallspoesie sorgen im Erstling noch für befreiende Momente. Etwa wenn der Gitarrenjunge bei Nacht am Heck einer Fähre steht, die Blitze eines Gewitters unwirklich über dem Wasser zucken und er sich plötzlich umdreht und verdutzt direkt in die Kamera schaut. In »Involuntary« erzeugt die formale Strenge – neben langen Einstellungen bewusst »fehlerhafte« Ka­drierungen, die nur Hinterköpfe zeigen oder Beine – im Zusammenspiel mit emotionaler Drastik eher Klaustrophobie.

»Play« (2011). © Fugu Films

Mit »Play« (2011) zeigte sich Östlunds Talent zu provozieren. Fanden manche den Film nur zu moralisch-didaktisch, so beschuldigten ihn andere des Rassismus. Sehr ruhig, sehr statisch und sehr distanziert beobachtet »Play« urbane Szenen, in denen eine Gruppe dunkelhäutiger Jungen eine andere Gruppe etwas jüngerer, wohlhabender Jungen verfolgt und – unter dem Vorwand, ein angeblich ihrem Bruder geklautes Smartphone wiederzuerkennen – nicht mehr in Ruhe lässt. Wollen sie sie berauben? Geht es um Zeitvertreib? Um sadistische Machtspiele? Die Rache sozial Benachteiligter an den Sprösslingen der Reichen? Mit nur 42 Schnitten und quasi in Echtzeit, mit Bildern wie von Überwachungskameras, lässt der Film die meisten Fragen offen und wirft den Betrachter nicht nur in ein Wechselbad der Gefühle, sondern auch auf seine eigenen – rassistischen? – Projektionen zurück. Klischees von kriminellen Migrantenjungs treffen auf Klischees von verwöhnten Wohlstandskids und fordern zur Auseinandersetzung mit dem eigenen Blick auf.

Auch wenn er auf letztlich zeitlose Reflexionen über die menschliche Natur zielt, ist Östlund doch stets auf der Spur des Zeitgeists. Das ist nicht nur an der herausragenden Rolle von Smartphones in seinen Filmen zu erkennen. Auch dass eine seiner wichtigsten Inspirationsquellen YouTube ist, passt ins Bild. »Well-to-do Swedes lose their dignity« lautete sein erster Titelvorschlag für eine Retrospektive seiner Werke in Minneapolis – ein typischer YouTube-Titel, etwa analog zu »Idiot Spanish bus driver almost kills students«. Dieses Dokument einer riskanten Busfahrt auf enger Serpentinenstraße, die mit dem vorzeitigen Ausstieg der verängstigten Fahrgäste endet, findet sich fast eins zu eins nachinszeniert in der Schlussszene von »Höhere Gewalt«. Und für die atemraubende Eskalation in »The Square«, wenn die Performance eines »Affenmenschen« (Motion-Capture-Performer Terry Notary) bei einem Galadiner des Museums außer Kontrolle gerät, ließ Östlund sich in­spirieren von Videos extremer Performances des Punkmusikers GG Allin und des Aktionskünstlers Oleg Kulik.

In einem anderen YouTube-Clip wiederum spielt Östlund selbst die Hauptrolle: »Swedish director freaks out when he misses out on Oscar nomination« ist eine ironische Selbstbespiegelung anlässlich der Bekanntgabe der Nominierungen für den besten fremdsprachigen Film 2015, bei denen ­»Höhere Gewalt« leer ausging.

Natürlich ist Östlund auch filmtechnisch immer auf der Höhe der Zeit, zudem sehr experimentierfreudig, so setzt er häufig subtile digitale Bildmanipulationen ein. Im 12-Minüter »Incident by a Bank« etwa, für den er 2010 in Berlin den Kurzfilm-Bären gewann, ist sogar jede Kamerabewegung erst in der Postproduktion computergeneriert worden. Ursprungsbild war eine einzige, unbewegte Totale eines Straßenzugs samt Bank, innerhalb derer dann per overscanning der Bildausschnitt gewählt wurde. Der Betrachter wird so zum Zeugen eines in seinem Dilettantismus grotesken, dabei aber ganz realistisch inszenierten und akribisch choreographierten Banküberfalls.

Dem Schauplatz Skiresort und der Gebirgsumgebung in »Höhere Gewalt« (2014) haben vielfältige digitale »Umbauten« einen bemerkenswert künstlichen Charakter verliehen. Auch die faszinierend komponierte lange Schlüsselszene mit dicht besetzter Restaurantterrasse im Vordergrund und Bergpanorama im Hintergrund, in das eine gigantische Lawine einbricht, bis sie auch die Terrasse zu verschlingen scheint, ist ein perfektes digitales Kompositum.

Weniger distanziert und in grafisch klaren Bildern erzählt, findet »Höhere Gewalt« bislang wohl die eleganteste Balance von gnadenloser Analyse menschlicher Schwächen und augenzwinkerndem Humor. Die Geschichte ist so einfach wie vielschichtig: Ein Familienurlaub im Skihotel entwickelt sich zum Desaster, als Vater Thomas angesichts einer Lawine, die bedrohlich aussieht, doch niemanden verletzt, aufspringt und Frau und Kinder im Stich lässt. Dieser Bruch mit der Rolle des Beschützers, aber mehr noch sein späteres Abstreiten jeglichen Fehlverhaltens führt in die Dekon­struktion der Kleinfamilie. Die Legende um »Frauen und Kinder zuerst«, das Wunschbild vom modernen Mann – emanzipiert und sensibel, aber wenn es darauf ankommt, immer noch heldisch – und von der Frau, die vom Mann kein Heldentum mehr erwartet, all diese ­Klischees fegt Östlund in einer furiosen filmischen Schussfahrt hinweg. Erst als Thomas nur noch ein Häuflein Elend ist (»Ich bin genauso Opfer! Ich bin Opfer meines eigenen Instinkts!«) kann schrittweise die prekäre Rekonstruktion von Ehe und Familie folgen.

Östlunds Stil ist mit »Höhere Gewalt« und »The Square« flexibler und fluider geworden, von großer Statik und Totalen hin zu mehr Nah- und Großaufnahmen, Kamerabewegungen und Schärfeverlagerungen. Ein Moment des Experimentellen, Performativen bleibt seinen Filmen aber eigen: Sie machen immer noch ihre eigene Medialität durch stilistische Irritationen, etwa harte Schnitte in Dialogsätze hinein, und surreale Einsprengsel bewusst. Sie spiegeln den Blick des Betrachters nicht mehr so hart auf ihn selbst zurück wie etwa »Play«, lassen aber auch keine Gemütlichkeit aufkommen. Wenn Östlund von sich selbst erzählt, dann macht er unmissverständlich klar: Er erzählt auch von uns, von den blinden Flecken unserer allseits aufgeklärten, weltoffenen, toleranten und reflektierten Wahrnehmung.

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