Jens Balkenborg

Filmkritiken von Jens Balkenborg

Seit 15 Jahren sind Yasemin und Ilyas ein Paar, bis sie im Café der Familie erschossen wird. Kanwal Sethi erzählt auf zwei Zeitebenen von der Beziehung, dem Schmerz der Hinterbliebenen und den polizeilichen Ermittlungen. Ein brandaktueller Film über strukturellen Rassismus, der leider seinen Bildern nicht traut und arg formelhaft und didaktisch daherkommt.
In einem Pflegeheim kommen sich Maria, eine sehr korpulente Pflegerin, und der querschnittsgelähmte Alex näher. Mit zwei fantastischen Hauptdarstellern inszeniert Claudia Rorarius so explizit wie sensibel eine Choreografie multipler Berührungen und verhandelt Fragen zu Körpernormen, Sexualität und Machtgefälle.
An einer englischen Eliteschule bringt eine guruhafte neue Lehrerin für achtsamer Ernährung ihre Schüler:innen dazu, das Essen gleich ganz aufzugeben. Jessica Hausner erzählt formal sachlich von Selbstzerstörung und triggert aktuelle Themen. Doch wird der toll inszenierte und ausgestattete Film ein Stück weit von seinem konzeptionellen Ansatz gefressen und lässt kalt.
Nila wurde während einer temporären Ehe gezeugt. Weil der Vater sie nicht anerkennt, existiert sie rechtlich nicht und darf nicht zur Schule. Niloufar Taghizadehs Dokumentarfilm zeigt den Kampf einer Mutter gegen den unmenschlichen patriarchalen Apparat im Iran. Ein augenöffnender Film, der aller psychischer Brutalität zum Trotz nicht in der Dunkelheit versinkt.
Der Film spinnt ein episodisch erzähltes Netz zwischen drei Frauen auf drei Kontinenten, entpuppt sich aber als weltumspannende Soap-Opera mit Hang zur aufgesetzten großen Geste und Kalenderspruch-Botschaften.
Ein junges Paar checkt in einem leeren Hos­tel ein, doch sie scheinen dort doch nicht die einzigen Gäste zu sein. Malte Wirtz Film ist der Versuch, ohne Mittel einen kammerspielartigen Paranoia-Gruselfilm zu inszenieren. Das Experiment scheitert leider.
Der Arzt Bruno hat wegen Drogenkonsums seine Approbation verloren und versorgt Kriminelle und gesellschaftliche Randgestalten. Als er einen leukämiekranken Mafioso behandelt, mit dem sein Schwager eine Rechnung offen hat, eskaliert die Situation. Daniel Rakete Siegel und Denis Moschitto setzen mit ihrem düsteren, zwischen Ruhe und Gewalt changierenden Film ein Ausrufezeichen im deutschen Genrefilm.
Edwin, Moderator einer Wissenschaftssendung für Kinder, rutscht in eine Midlife-Crisis, als ein jüngerer Doppelgänger seine Show übernehmen soll. Aus den Resten einer abgestürzten Raumkapsel will er eine Rakete bauen. Colin West macht in seinem sympathischen Independent-Film eine spleenige Welt auf, irgendwo zwischen »Donnie Darko«-Vibes und Steven Spielberg.
Die Beziehung eines Schauspielers und eines Schriftstellers kriselt. In Tableaus entwirft Fabian Stumm in seinem Debüt das Porträt des schwulen Künstlerpaars im Krisenmodus. Ein unterhaltsamer, sehr menschlicher Film in dem sich Leben und Kunst berühren und durchdringen.
Jeanne Herry erzählt über eine begleitete Gesprächsgruppe aus verurteilten Tätern und Opfern und einen konkreten Fall von der Restorative Justice. 2014 in Frankreich eingeführt, bietet sie die Möglichkeit, in sicheren Einrichtungen ins Gespräch zu kommen. Eine dialogische Tour de Force mit universeller Botschaft: Den Sprechenden kann geholfen werden.

Weitere Inhalte zu Jens Balkenborg

Blogeintrag
Auf der Berlinale ist Renate Reinsve in größeren Nebenrollen in gleich zwei Filmen im Wettbewerb zu sehen, zwei sehr unterschiedlichen Filmen: in Aaron Schimbergs grotesker Komödie »A Different Man« und in Piero Messinas Science-Fiction-Drama »Another End«.
Blogeintrag
Dass es in der Küche heiß hergeht und dass sie ein Ort sein kann, an dem sich ganze persönliche Geschichten manifestieren, an dem sie ausgefochten werden und explodieren, dafür steht die Serie »The Bear« wie keine zweite. Für alle, die die mit Preisen überhäufte Serie gesehen haben, muss Alonso Ruizpalacios' Wettbewerbsfilm »La Cocina« schal schmecken.
Blogeintrag
Bis zur Berlinale 2023 tummelten sich deutsche Nachwuchsfilme in der Sektion Perspektive deutsches Kino. Die Perspektive ist (leider) Geschichte, aber immerhin sind in diesem Jahr einige junge deutsche Regisseure in anderen Sektionen vertreten. In der Sektion Berlinale Special etwa ist Tilman Singers zweiter Langspielfilm »Cuckoo« zu sehen.
Thema
In den nuller Jahren war Yorgos Lanthimos Teil ­einer neuen Welle im griechischen Kino. Seit »The Favourite« ist er Anwärter auf die ganz ­großen Preise. Gebändigt hat ihn der Erfolg nicht, wie seine grelle Romanadaption »Poor Things« zeigt.
Meldung
Der dritte Tag auf dem Lido stand, zumindest was die Filmtiteln anging, im Zeichen der Musik. An diesem Tag feierten Bradley Coopers Leonard Bernstein-Biopic »Maestro« – ja, hier ging es auch um Musik – und Stefano Sollimas »Adagio« Premiere.
Meldung
Yorgos Lanthimos hat es wieder getan: Er hat einen so lustigen wie verstörend-schönen Film gemacht, in dem er an den Fassaden unseres Zusammenlebens kratzt. »Poor Things« ist der künstlerisch ambitionierteste und bisher preisverdächtigste Film im Wettbewerb. 
Meldung
Wes Anderson hat in einem Interview über seinen Kurzfilm »The wonderful Story of Henry Sugar« gesagt, dass es sich dabei nicht wirklich um einen Film handele. Das ist eine witzige Polemik mit Wahrheitsgehalt, denn seine bald bei Netflix erscheinende Roald-Dahl-Adaption, die zweite nach »Fantastic Mr. Fox«, ist die konzentrierte Überhöhung seines Stils: verschachtelt in verschiedene Erzählebenen, meta durch und durch und dabei mehr ein filmisches Theaterstück im Tableaux-Modus denn ein narrativer Film.
Meldung
»Melk« hieß mein Einstieg, ein kleiner Debütfilm, der durch das Feingefühl für sein Thema überzeugt. Präsentiert wurde der Film in der eigenständigen Reihe Giornate degli autori, dem venezianischen Äquivalent zur Quinzaine des Réalisateurs in Cannes.
Thema
Für seine erfrischend schrägen Drehbücher wird Martin McDonagh regelmäßig mit Preisen überhäuft: »Brügge sehen . . . und sterben?«, »Three Billboards Outside Ebbing, Missouri«. Das ist kein Wunder, denn der Mann hatte bereits eine erfolgreiche Theaterkarriere am Laufen, bevor er Filmemacher wurde.