Nachruf: Tom Wilkinson

Eine enorme Präsenz

5.2.1948 – 30.12.2023

Er war einer jener Schauspieler, die mit leichtem Gepäck durch ihre Karriere reisen. Das gelingt nur, wenn man über immenses Talent verfügt. Es hilft selbstverständlich, der britischen Tradition zu entstammen und das schiere Handwerk zu beherrschen. 

Für Tom Wilkinson gehörten Technik und Inspiration untrennbar zusammen. Seine Kunst entstand aus dem Konkreten, aus der Geistesgegenwart der Gesten, Blicke und Worte. An seine Rollen ging er wie an eine musikalische Partitur heran. Es genügte ihm mitunter, Tonfall und Tempo richtig zu modulieren, um Figuren zu filmischem Leben zu erwecken. Er war selbstbewusst genug, um zu wissen, was er ihnen geben konnte. Deshalb musste er nicht ausgiebig mit Regisseuren über Motivation diskutieren. Er betrieb keine Selbsterforschung, wie sie method actors gern großspurig zelebrieren, sondern verließ sich auf seine Menschenkenntnis und Vorstellungskraft. 

Wilkinson wurde als Bauernsohn in Yorkshire geboren und verbrachte einen Teil seiner Kindheit in Kanada. An der Royal Academy of Dramatic Arts genoss er eine vorzügliche Ausbildung. Bei seinem ersten Vorsprechen 1974 wurde er vom Fleck weg engagiert. Zwei Jahre später entdeckte Andrzej Wajda ihn fürs Kino und besetzte Wilkinson in der Verfilmung von Joseph Conrads »Die Schattenlinie«. Im Ensemble des Royal Court erregte er Aufsehen als einer der jüngsten King-Lear-Darsteller der Theatergeschichte. In Film und Fernsehen profilierte er sich derweil als zuverlässiger Nebendarsteller. Wirklich bekannt wurde er erst, als seine Koteletten schon ergraut waren. In »Ganz oder gar nicht« (The Full Monty) beeindruckte er 1997 als anschlussfähiger Mittelschicht-Snob, der zum solidarischen Lehrmeister der Tanztruppe wird. Im Jahr darauf verkörperte er in »Shakespeare in Love« erneut eine Figur, die sich erfreulich wandelt: einen grimmigen Geldverleiher, der vergnügt entdeckt, dass er Schauspieltalent besitzt. Seine frühen Figuren wussten zu überraschen, aber auch spätere konnten verblüffen. In »Verleugnung« (2016) meint man lange Zeit, als Anwalt würde er eine falsche, nachgerade verantwortungslose Strategie gegen den Holocaust-Leugner David Irving verfolgen. 

Wilkinson wirkte glaubhaft in unterschiedlichsten Epochen und fügte sich in jede soziale Landschaft. Mit gewissenhafter Leichtigkeit eignete er sich Akzente, lokale Färbungen und Sprachduktus an. In »In the Bedroom« muss man ihn nur in Baseballkappe und beim Grillen sehen, um sogleich überzeugt zu sein, dass er sein ganzes Leben als Fischersohn und Arzt in Maine verbracht hat. Als Vater, dessen Sohn ermordet wird, verkörpert er einen uramerikanischen Begriff von Gerechtigkeit. Der Verlust droht, die Ehe der Eltern zu spalten. Er trauert anders als seine Frau: hinter aufrechterhaltener Fassade. (Wilkinson ist oft ein großartiger Kontrapunkt.) Erst sein Akt der Selbstjustiz, planvoll und beherrscht umgesetzt, führt sie wieder zusammen. 

Seine Körpergröße prädes­tinierte ihn für Patriarchen, Führungskräfte und Staatsmänner. Lyndon B. Johnson verkörpert er in »Selma« ganz anders als einige Jahre zuvor Michael Gambon: ohne Volkstümlichkeit, sondern als Realpolitiker, der die eigene Rolle in der Geschichte bedenkt. Eingangs agiert er gar als Kontrahent von Martin Luther King und taktiert lange, bevor er sich endlich für die Bürgerrechtsbewegung einsetzt. Wilkinsons Figuren repräsentierten die Ordnung, konnten aber ein Funkeln von Rebellion oder Ironie nicht verbergen. Gangsterbosse lagen ihm prächtig. 

Ein Schauspieler mit seiner Aura eröffnete im Schneideraum unbegrenzte Möglichkeiten. Seinen Figuren konnte er augenblicklich, ja brüsk Präsenz verleihen. Sie mussten nicht umständlich etabliert werden, sondern waren unverzüglich da: im Handeln, im Gehen, im Gespräch. Das funktionierte sogar, ohne dass man ihn sah: »Michael Clayton« beginnt abrupt mit der wahnwitzigen Tirade, die er auf dem Anrufbeantworter von George Clooney hinterlässt – der Klang seiner Stimme zieht das Publikum in den Paranoiathriller hinein. Danach hat er erstaunlich wenige Szenen, in denen er dem heiligen Narren, der Sand ins Getriebe streut, vollendete Kontur verleiht. Der Moment, als Clooney ihn ertappt, nachdem er ein Dutzend Baguettes gekauft hat, ist ein Kabinettstück filmischer Verstörung. Wilkinson war ein unbestechlicher Treuhänder seiner Figuren, denen er auch in Abgründe folgte.

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt