Kritik zu Selma

© Studiocanal

Die Filmemacherin Ava DuVernay konzentriert sich in ihrem Biopic über Martin Luther King auf die Ereignisse um den Marsch von Selma nach Montgomery im Jahr 1965. Sie selbst könnte bald die erste afroamerikanische Regisseurin sein, die für einen Oscar nominiert wird

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Die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung hat in den 60er Jahren ihre Markierungen auf der Landkarte der USA, vor allem in den Bundesstaaten des Südens, hinterlassen. Greensboro, Birmingham, Montgomery, Jackson, der Marsch auf Washington: die Namen der Orte, an denen die schwarze Bevölkerung für ihre Rechte auf die Straße ging, sind ebenso tief im Bewusstsein verankert wie die Namen der Menschen, die ihr Leben für diesen Kampf ließen. Es ist daher nur folgerichtig, dass das erste große Biopic über Martin Luther King nach jenem Ort benannt ist, an dem er und die Bürgerrechtsbewegung ihren wichtigsten Triumph feierten. Im kleinen Städtchen Selma, 80 Kilometer westlich von Alabamas Hauptstadt Montgomery, eskalierte im Frühjahr 1965 der Kampf um das uneingeschränkte Wahlrecht für afroamerikanische Bürger. Ein halbes Jahr zuvor hatte Lyndon B. Johnson den Civil Rights Act unterzeichnet, der allen US-Bürgern gleiche Rechte zusprach. In»Selma«wollten die Afroamerikaner jedoch nicht länger auf die langwierige Umsetzung ihres Grundrechts warten.

Anders als Spike Lees »Malcolm X« oder Lee Daniels' »The Butler« geht es in »Selma« also nicht um eine Chronik von Ereignissen, sondern um eine konzentrierte Situation. Lee Daniels war längere Zeit für die Regie im Gespräch, bevor er sich für »The Butler« entschied. Ein Grund, warum weder er noch Lee »Selma« drehen wollten, war unter anderem das niedrige Budget von 20 Millionen Dollar. Es ist wohl bezeichnend für die US-Filmindustrie, dass die erste große Verfilmung des Lebens einer der bedeutendsten Persönlichkeiten in der amerikanischen Geschichte des 20. Jahrhunderts als Independent-Produktion kalkuliert wird. Im Nachhinein stellt sich diese Entscheidung als Glücksfall heraus. Die Regie übernahm die unbekannte Filmemacherin Ava DuVernay, die mit ihrem Spielfilmdebüt »Middle of Nowhere«, einem Ehedrama über ein afro­amerikanisches Paar, vor drei Jahren den Sundance-Regiepreis gewonnen hatte.

Die Sensibilität für zwischenmenschliche Dynamiken zeichnet auch ihre Inszenierung von »Selma«aus, der mit einem kurzen Dialog zwischen King und seiner Ehefrau Coretta (David Oyelowo, Carmen Ejogo – wie alle Hauptdarsteller im Film Briten) beginnt, in dem King seinen Anzug für die Verleihzeremonie des Friedensnobelpreises skeptisch kommentiert. Die Brüder zu Hause würden sich über sein Pinguinkostüm nur lustig machen. Coretta erzählt er dann von seinem Traum, Pastor einer kleinen Gemeinde zu sein. Solche beiläufigen Dialoge sind wesentlich für DuVernays Inszenierung, die nie die große Aktion, sondern immer die Reflexion in den Vordergrund stellt. Man könnte »Selma« etwas abfällig als »Redefilm« abtun, doch DuVernay beschreibt fundiert und dabei leidenschaftlich die Strategien und die Politik innerhalb der Bürgerrechtsbewegung in Diskussionen, Auseinandersetzungen und Selbstzweifeln. In »Selma« geht es um mehr als um Selbstvergewisserung, es geht um ein grundsätzliches Anliegen, das angesichts von Ferguson noch immer Aktualität besitzt.

Sehr schön wird dieses Anliegen in der zentralen Szene des Films deutlich, dem zweiten Marsch von Selma nach Montgomery, den King trotz freien Geleits seitens der schwerbewaffneten Polizei abbrach, weil er einen Hinterhalt fürchtete. DuVernay filmt den Marsch wie einen Showdown, gleichzeitig schafft ihre Inszenierung es aber, die Bedeutung dieses gemeinschaftlichen Moments ohne Pathos zu erzählen: durch die Nähe der Menschen, wie sie nebeneinander marschieren, durch die Ruhe, mit der die Kamera ihre ernsten Gesichter registriert, im Verhältnis von Individuum und Kollektiv, das für das Selbstverständnis der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung so grundlegend war. Ein grandioses Ensemble von afroamerikanischen und afrobritischen Schauspielern, neben Oyelowo und Ejogo auch der immer verlässliche Wendell Pierce sowie die Entdeckungen André Holland, Colman Domingo, Stephan James, Keith Stanfield und der Rapper Common, der auch an dem Titelsong beteiligt ist, trägt maßgeblich dazu bei, dass »Selma« tatsächlich sehr viel mehr ist als bebilderte Geschichte.

... Patrick Heidmann im Interview mit Hauptdarsteller David Oyelowo

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