Nachruf: Terence Davies

Poetische Lebensaufarbeitung
Terence Davies am Set von »The Blue Sea« (2011). © Kinostar Filmverleih

Terence Davies am Set von »The Blue Sea« (2011). © Kinostar Filmverleih

10.11.1945 – 7.10.2023

Seinem Debüt als Filmemacher näherte sich Terence Davies mit flatternden Nerven: »terrified«. Er war spät dran. Der 1945 in Liverpool geborene Brite hatte die Schule mit 16 verlassen und zwölf Jahre seines Lebens in anspruchslosen Bürojobs vergeudet. Das jüngste von zehn Kindern, von denen drei früh starben, erlebte, besser: erlitt eine Kindheit, deren Martyrium erst mit dem Tod des tyrannischen, gewalttätigen und alkoholkranken Vaters endete. Terence war damals sechseinhalb Jahre alt. Das Kind war ein aufmerksamer Beobachter seiner Umwelt, begabt mit einem poetischen Empfinden und bezaubert vom Kino. Um aus der Welt der Büros auszubrechen, schickte Davies ein Drehbuch ans British Film Institute (BFI) und erhielt zu seiner Überraschung das Angebot (und 8500 Pfund), um den autobiografisch geprägten Stoff zu einem Film zu entwickeln. 1976 kam das 43-minütige Erstlingswerk Children heraus, gefolgt von »Madonna and Child« (1980) und »Death and Transfiguration« (1983). 

Die Kritiker reagierten unterschiedlich auf die in suggestivem Schwarz-Weiß erzählte »Terence Davies Trilogy«. Vergleiche mit Samuel Beckett und dem Dichter Philip Larkin dürften Davies geschmeichelt haben. Ein nicht so begeisterter Rezensent stellte fest, verglichen mit Davies wirkten die Filme Ingmar Bergmans, des Meisters schwedischen Existenz-Elends, geradezu so, als hätte sie der abgedrehte amerikanische Komiker Jerry Lewis realisiert. Davies, der im Leben wie in seiner Kunst einen bisweilen bissigen Sinn für Humor bewies, empfand die Polemik als Auszeichnung: »It’s such a wonderful insult, it’s a compliment.«

Zwei seiner bedeutendsten Filme, »Dis­tant Voices, Still Lives« (1988, deutsch: »Entfernte Stimmen – Stillleben«) und »The Long Day Closes« (1992, »Am Ende eines langen Tages«), rekonstruierten die Kindheit in  ­Liverpool. Pete Postlethwaite verkörperte in »Distant Voices, Still Lives« einen Mann, der seine Tochter mit einem Besen verprügelt. Nicht ganz sicher, ob Davies übertreibe, wandte sich Postlethwaite fragend an den Drehbuchautor und Regisseur. Davies gab ihm die Telefonnummer seiner Schwester und sagte: »Ruf sie an.«

»The Long Day Closes« ist aus der Per­spektive des elfjährigen Bud erzählt. Er erlebt, man mag es kaum glauben angesichts der szenischen Schwermut und Düsternis, zwischen sieben und elf die glücklichsten Jahre seines Lebens. Der Film spiegelte Davies’ lebenslanges Bemühen um eine kunstvolle, von dem dänischen Maler Vilhelm Hammershoi (1864–1916) und dem Niederländer Jan Vermeer (1632–1675) beeinflusste Bildersprache. Kongenialer Partner war immer wieder der Kameramann Florian Hoffmeister. In »The Long Day Closes« gestaltete Davies einen Moment, in dem ein Lichtstrahl auf den Teppich fällt, mit großer poetisch-visueller Ausdruckskraft. »Er ist ein Dichter, er denkt wie ein Dichter, und er sieht wie ein Dichter«, urteilte Freda Dowie, die in »Distant Voices, Still Lives« die Mutter spielte. Der filmisch erinnerte Alltag mit Armut, Einsamkeit, Furcht, Phobien, geringem Selbstwertgefühl und den Selbstzweifeln eines Homosexuellen (»I hate being gay«) wurde bei Davies zum Ereignis. Meditative Dialoge in dunklen Innenräumen, langsame Kamerafahrten, die intensive Studie von Gesichtern, minutenlange Stille vor erlösender Musik gewannen bei ihm eine fesselnde Qualität. 

Davies, der vom geliebten Schwarz-Weiß zur Farbe wechselte, wandte sich nach den autobiografischen Werken der Literatur zu. Er adaptierte Edith Whartons Roman »The House of Mirth« (2000, Haus Bellomont) mit Gillian Anderson in der Hauptrolle und ­Terence Rattigans Theaterstück »The Deep Blue Sea« (2011) mit ­Rachel Weisz und Tom ­Hiddleston. »A Quiet Passion« (2016, »Das Leben der Emily Dickinson«) bot »Sex and the City«-Star Cynthia Nixon eine anspruchsvolle Bühne. In »Benediction« (2021) stellte Jack Lowden den englischen Poeten Siegfried Sassoon als einen zerrissenen, zutiefst unglücklichen schwulen Mann dar. In ihm erkannte Davies sich wieder. Am 7. Oktober ist er im Alter von 77 Jahren in Mistley, Essex, gestorben.

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