Konkurrenzlos in Cannes

»Occupied City« (2023). © A24

Wie aktuell der neue Film von Steve McQueen, »Occupied City«, entgegen seinem historischen Thema ist, wird allein schon in der Irritation spürbar, die er mit seinen ersten Bildern auslöst. Da liest eine Frauenstimme kurze Berichte von einzelnen Bewohnerschicksalen aus den Jahren 1940-1945 vor, als Amsterdam von den faschistischen Deutschen besetzt war. Auf der Leinwand gibt es dazu Bilder von heute. Und weil McQueen (»12 Years a Slave«) das Filmen dieser Gegenwartsebene im Jahr 2020 begann, sieht man Aufnahmen von Lockdown-Warnungen, leeren Straßen, maskierten Menschen und Maßnahmengegner-Demonstrationen, während die Frauenstimme aus dem Off von den Verboten unter Naziherrschaft erzählt, von Ausgehsperren, dem Hungerwinter und sadistischen Ausgrenzungmaßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung. Das Unwohlsein, das angesichts dieser vermeintlichen Parallelisierung entsteht, lässt sich aber auch schlicht als Forderung an die eigene Aufmerksamkeit begreifen: nämlich nicht einfach unser wohlstandverwöhntes Heute – Was geht es uns gut! – zum Kontrast zu den entsetzlichen Geschichten von damals zu setzen, sondern die Unterschiede klar zu erkennen.

»Occupied City«, der in Cannes außerhalb des Wettbewerbs um die Goldene Palme läuft, folgt vier Stunden lang immer demselben Aufbau: Eine Adresse wird genannt und danach entweder etwas über einen der Bewohner oder etwas über das Gebäude selbst erzählt. Als Vorlage diente dem Briten McQueen das Buch seiner niederländischen Ehefrau Bianca Stigter über Amsterdam 1940-1945, ein »Atlas einer besetzten Stadt«. Die erschlagende Mehrheit der Geschichten läuft auf Deportation, Tod und Zerstörung hinaus, auch die, die im Kern ein Quäntchen Hoffnung repräsentieren, weil sie von Widerstand berichten.

Die historischen Vignetten handeln aber auch von schändlichem Verrat, von Kollaboration und immer wieder von der puren Grausamkeit der Nazi-Bürokratie. Oft genug kommen da, wo die Nazis Versammlungen abhielten, auch heute Menschen zusammen. Die Zeit der Besatzung ist Amsterdam, so macht McQueens Film eindrücklich klar, bis heute tief eingeschrieben. Zugleich aber ist es eine höchst lebendige Stadt, die sich ihrer Vergangenheit stellt – eine Aufnahme zeigt zum Beispiel ein Gedenken an die Verbrechen der holländischen Kolonialvergangenheit – und deren Bürger sich etwa in einem Klimaprotest beständig engagieren. 80 Prozent seiner 80.000 jüdischen Bewohner hat Amsterdam im Holocaust verloren. »Occupied City« setzt ihnen ein fantastisches, tief unter die Haut gehendes filmisches Mahnmal.

Der deutsche Künstler Anselm Kiefer steht auf seine Weise für eine eigensinnige Auseinandersetzung mit dem deutschen Nationalsozialismus, die viele immer wieder irritiert hat. In seinem ebenfalls außer Konkurrenz in Cannes präsentierten Film »Anselm« porträtiert der deutsche Filmemacher – und Palmengewinner – Wim Wenders ihn mit einer ähnlicher Haltung, die seine Dokumentationen zum Fotograf Sebastião Salgado (»The Salt of the Earth«, 2014) und der Tänzerin Pina Bausch (»Pina«, 2011) auszeichnete: Für die Zeit des Films macht sich Wenders zum Fan und zum emphatisch-begleitenden Zuhörer und Zuschauer. Wie in »Pina« reizt er dazu die Mittel der 3D-Technologie aus, die sich für die großen Maße von Anselm Kiefers Werken einmal mehr als besonders geeignet herausstellt. Wenders und Kiefer sind beide 1945 geboren und in der Rekapitulation von Kiefers Biografie wird »Anselm« gleichsam nebenbei auch zu einem Nachkriegsgenerationenporträt. Wim Wenders, dessen Spielfilm »Perfect Days« in der kommenden Woche im Wettbewerb von Cannes Premiere feiern wird, ist mit »Anselm« zumindest der erste Teil eines Cannes-Comebacks bestens geglückt.

Eine erste kleine Enttäuschung gab es im so prominent wie selten besetzten Nebenprogramm mit einem anderen Cannes-Stammgast. Der Spanier Pedro Almodóvar stellte seinen halbstündigen Western »Strange Way of Life« vor, in dem Pedro Pascal und Ethan Hawke als ehemaliges Liebespaar auftreten, das sich nun auf den gegensätzlichen Seiten des Gesetzes wiederfindet. Im Publikumsgespräch bekannte sich Almodóvar dazu, es Regisseurinnen wie Kelly Reichardt (»First Cow«), Chloe Zhao (»The Rider«) und Jane Campion (»The Power of the Dog«) nachtun zu wollen, die sich getraut haben, queere Sexualität im Western zu thematisieren. Doch Almodóvars »Strange Way of Life« geriet zu formelhaft und eklektizistisch, um für mehr als eine Fingerübung durchzugehen – was das Publikum nicht davon abhielt, den Kurzfilm frenetisch zu feiern.

Nach der glanzvollen Eröffnung, in der das Filmfestival von Cannes mit Stars wie Michael Douglas, Catherine Deneuve und Johnny Depp für die richtige Mischung aus Hommage an Lebensleistung und publikumswirksamem Skandal sorgte, geht es also kontrovers und glamourös weiter. Der unter anderem wegen seines Verhaltens im Prozess mit der eigenen Ex-Gattin Amber Heard in Verruf gerate Depp genoss das Bad in der ihn verehrenden Menge an der Croisette jedenfalls sichtlich.

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